TRITT: Guten Tag, geschätzter Groll!
GROLL: (ohne sich umzudrehen): Guten Tag!
TRITT: Warum streichen Sie nur die oberen Sprossen?
GROLL: (wendet den Rollstuhl und sieht TRITT mit einem durchdringenden
Blick an)
TRITT: Entschuldigen Sie.
GROLL: Die Teile, die in meiner Reichweite sind, streiche ich dafür
mehrmals.
TRITT: Darf ich Ihnen helfen?
GROLL: Kommt nicht in Frage.
TRITT: Vorher war der Zaun gleichmäßig von der Sonne ausgebleicht,
jetzt ist er scheckig wie eine Hyäne. Wo liegt da der Sinn?
GROLL: Das müssen Sie die Hausverwaltung fragen. Sie hat mir schon
drei Drohbriefe geschrieben. Sie droht mir mit der Erscheißung, falls
ich den Zaun nicht binnen Wochenfrist streiche.
TRITT: Was ist das für eine Hausverwaltung?
GROLL: Eine sozialdemokratische. Ich darf aber bei der standrechtlichen
Erschießung im Rollstuhl sitzen bleiben. Ein soziales Entgegenkommen.
TRITT: Die Verrohung der Sitten nimmt beängstigende Ausmaße
an.
GROLL: Richtig! Seit die Sozialdemokraten Haider offiziell ausgrenzen
und ihn hinterrücks in der Wahlzelle stärken, ist der Ton der
Hausverwaltung merklich schärfer geworden.
TRITT: Sehen Sie, lieber Groll, genau darüber wollte ich mit Ihnen
reden.
GROLL: Worüber?
TRITT: Ich möchte im nächsten Semester eine Vorlesung über
das Verhältnis der Linken zur Behindertenfrage halten. Da ich weiß,
daß Sie sich zur Restlinken zählen, würde ich Sie gern
befragen.
GROLL: Fangen Sie an.
TRITT (zieht einen Notizblock hervor und liest): Aufgrund ihrer
gesellschaftlichen Randstellung finden sich unter den Behinderten sehr
viele kritische, linke Menschen.
GROLL: Falsch!
TRITT: Wieso?
GROLL: Aufgrund ihrer Ghettoisierung fristen viele Behinderte ein Außenseiterdasein.
Sie sind zu hoher Standorttreue verurteilt und werden somit leichte Beute
des Fernsehens. Folglich finden Sie unter Behinderten Nebelhaftigkeit im
Denken, Obskurantismus und Liquidatorentum. Weit verbreitet sind auch gewöhnliche
Dunkelmännerei und ein notorischer Hang zum Anschwärzen von Schicksalsgenossen.
TRITT: Das meinen Sie doch nicht ernst!
GROLL: Bei der Pflegegeld-Demonstration vor dem Finanzministerium wurde
ich Zeuge, wie mehrere Rollstuhlfahrer "Ausländer raus!" brüllten,
nachdem die Behindertensprecherin der FPÖ dazu aufgefordert hatte.
TRITT: Wie haben Sie darauf reagiert?
GROLL: Ich skandierte eine Gegenparole: "Behinderte raus!"
TRITT (nachdenklich): Ich war der Meinung, daß behinderte Menschen
weltoffener als ihre Mitbürger sind?
GROLL: Das genaue Gegenteil ist der Fall, Sie Illusionist! Wie soll
jemand, dem die Welt nicht offensteht, weltfoffen sein?
TRITT: Ich dachte, Behinderte sind meistens verkabelt.
GROLL: Ein gedanklicher Kurzschluß! Kabelfernsehen und Weltoffenheit
schließen einander aus. Als die Kabelgesellschaft vor Jahren zum
Sturmangriff auf meinen Gemeindebau ansetzte, klebte ich noch vor dem Beginn
der Kampfhandlungen ein Stück Elektrokabel an meine Wohnungstür.
Daneben befestigte ich ein altes Plakat aus der Zeit des Vietnamkrieges:
"Ami go home!". Das "Ami" habe ich durch "Kabel" ersetzt. Die Männer
von der Kabelgesellschaft waren wie vor den Kopf geschlagen. Noch am selben
Tag riß ich das Telefonkabel im Stiegenhaus aus der Wand und kaufte
mir ein Funktelefon.
TRITT: Ein Handy?
GROLL: Nein, ein sowjetisches Röhrengerät der Marke "Traktorist",
ich ziehe es auf einem Lastrollstuhl hinter mir her.
TRITT: Aber gerade Sie, der Sie immer die Provinzialität Österreichs
beklagen, gerade Sie müßten doch an der Welt außerhalb
Österreichs interessiert sein.
GROLL: Ich bin nur daran interessiert.
TRITT: Folglich müßten Sie doch das Kabelfernsehen nutzen!
GROLL (zornig): Im Kommunistischen Manifest werden Sie nichts
über Kabelfernsehen finden, und ich halte mich auch in Fragen des
Alltags an die Anweisungen der Klassiker. Wozu soll ich kabelfernsehen?
Damit ich sehe, wie in der senegalesischen Casamance der Sezessionskrieg
fortgesetzt wird? Damit ich erfahre, daß Burkina Faso beeindruckende
Sozialreformen verwirklicht hat und im Sahel als das Kuba Westafrikas gehandelt
wird? Damit ich den Kampf der algerischen Rif-Kabylen, die der ORF als
Berber denunziert, gegen den Klerikalfaschismus verfolgen kann? Das weiß
ich auch ohne Kabel, Sie Tropf! Ich verabscheue den Kabelsalat, ich wünsche
den Kabelmenschen täglich Kabelbrand. Wenn Sie mich weiter mit dem
Kabelfernsehen ärgern, werde ich auch vor dem Äußersten
nicht zurückschrecken, dann werde ich den Tiefkühl-Kabeljau im
Konsum boykottieren.
TRITT: Der Schaden wird beträchtlich sein. Woher beziehen Sie
denn Ihr Wissen?
GROLL: Ich bediene mich eines weltweiten Informationsnetztes.
TRITT: Abgesprungene Stasi-Agenten? Leute vom KGB?
GROLL: Denunzianten und Defätisten haben bei uns nichts verloren.
Ich rede von behinderten Kollegen und Kolleginnen.
TRITT: Ich verstehe. (Er trägt etwas in sein Notizbuch
ein). Darf ich mit meinen Fragen fortfahren?
GROLL: Bitte.
TRITT: Bei den Klassikern des Sozialismus finden sich erstaunlicherweise
keinerlei Aussagen über Behinderte.
GROLL: Falsch! Engels’ „Lage der arbeitenden Klasse“ und Marx’ „Kapital“
handeln von nichts anderem. Ganz zu schweigen von den Artikeln, die Marx
und Engels über die Verstümmelungen während des Sepoy-Aufstandes
in Indien im Jahre 1857 verfaßten. Oder die Kommentare von Marx in
den technologisch-historischen Exzerpten. Lesen Sie seine Anmerkungen zur
ursprünglichen Akkumulation, der Umwandlung von Waisen- und Irrenanstalten
zu Arbeitshäusern.
TRITT: Ich meine eher die philosophische Dimension des Marxschen Denkens.
GROLL: Pardon! Ich vergaß, daß Sie ein Sozialdemokrat sind.
Aber auch hier irren Sie. In der „Kritik der Hegelschen Dialektik und der
Philosophie überhaupt“ entwickelt Marx den Begriff der Entfremdung.
Es heißt dort, daß der sich selbst entfremdete Mensch auch
seinem gesellschaftlichen Wesen nach ein entfremdeter Denker ist; und welche
Entfremdung könnte größer sein als diejenige, die ein Mensch
erlebt, dessen Glieder oder Sinne sich von ihm entfremdet haben, indem
sie die Arbeit einstellen, streiken oder gänzlich verschwinden. Die
Lähmung eines Beines zum Beispiel ist nichts anderes als ein partieller
Generalstreik.
TRITT: In diesem Sinne läßt sich ja die ganze Geschichte
auf die Behindertenfrage reduzieren!
GROLL: In diesem Sinne heißt behindert sein, daß innerhalb
des Behinderten ein Kampf zwischen seiner fungierenden und seiner potentiellen
Eigenheit, seinem naturhaften und seinem gesellschaftlichen Wesen tobt.
Anders gesagt: mit dem Wegfall bestimmter körperlicher oder geistiger
Fähigkeiten geht der behinderte Mensch auch der damit korrespondierenden
Teile seines Wesens verlustig. Er büßt damit die einzigartige
Qualität der menschlichen Existenz ein - die Veränderungsfähigkeit
durch die Arbeit an der Natur und damit an sich selbst. Die meisten Behinderten
verändern sich nicht, sie bleiben, wie sie sind.
TRITT: Das ist ja geradezu blasphemisch!
GROLL: Warum? Wer täglich mit dem status quo zu kämpfen hat,
entwickelt schwerlich Utopien.
TRITT: Aber gerade Marx war ein Prophet der Veränderung!
GROLL: So wurde er in der Sozialdemokratie verstanden, in Wahrheit
war Marx vor allem ein leidenschaftlicher Kritiker der bestehenden Ordnung.
Vielleicht haben Sie schon davon gehört, daß nach Marx das Individuum
nichts anderes ist als das Ensemble der vorgefundenen gesellschaftlichen
Verhältnisse. Wenn Sie sich dazu bequemen, den sozialdemokratischen
Horizont zumindest gedanklich hinter sich zu lassen, werden Sie feststellen,
daß sich aus dem oben Gesagten ein Doppelcharakter der Behinderten
ergibt: zum einen sind sie lästiges Erschwernis des Alltags, zum anderen
werden sie im gesellschaftlichen Verkehr von politökonomischen Verwerfungen
überfordert, die bis zum staatlich verordneten Massenmord reichen
können. Es ist diese zweite Dimension von Behinderung, die das Leben
behinderter Menschen schwierig macht.
TRITT: Sie sind zu pessimistisch!
GROLL: Andererseits behaupten Behinderte schon durch ihre Existenz
die Möglichkeit einer anderen Lebensform. Sie sind ein lebendiger
Widerspruch, der darauf hindrängt, die Grundlage dieses Widerspruchs,
die Unterwerfung der Menschen unter die Zwänge der Plusmacherei, umzuwälzen.
Aus diesem Grund spiegelt ja auch die Art des gesellschaftlichen Umgangs
mit Behinderten die zivilisatorische Stufe der jeweiligen Gesellschaft
wider.
TRITT: Die Behinderten als Spiegel der Nichtbehinderten! (Schreibt
in sein Notizbuch.)
GROLL: Unter anderem üben Behinderte diese gesellschaftliche Rolle
aus. Ebenso wichtig erscheint mir aber eine andere Funktion.
TRITT: Reden Sie!
GROLL: Sie disziplinieren die Nichtbehinderten. Es liegt in der Logik
unserer Gesellschaftsordnung, daß vor den behinderten Staatsbürgern
ständig neue Barrieren aufgetürmt werden. Die gesellschaftliche
Behinderung wirkt als Stigmatisierung, und zwar derart, daß noch
der ausgebeutetste Nichtbehinderte froh ist, bloß ausgebeutet und
betrogen, nicht aber behindert zu sein. Wir sind also ohne unser Zutun
eine gesellschaftliche Abschreckungswaffe. Und diese Waffe wird jeden Tag
aufs neue in Stellung gebracht.
TRITT: War es nicht der aufgezwungene Rüstungswettlauf, der dem
sozialistischen Lager seine Humanität raubte? Ist es nicht am militärisch-industriellen
Komplex zugrundegegangen?
GROLL: Ich bin davon überzeugt, daß die Kommunisten, wären
sie zugrundegegangen, anstatt sich zugrundegerichtet zu haben, wegen ihres
Versagens gegenüber den Schwächsten zugrundegegangen wären.
Übrigens möchte ich Kuba von diesem Befund ausnehmen. Selbst
heute noch, da Kuba ökonomisch erdrosselt wird, leben geistig Behinderte
dort unvergleichlich menschenwürdiger als in den USA. Dennoch: die
Marxschen Gedanken sind zuerst in den Behindertenghettos des Realen Sozialismus
erstickt. Ich erinnere mich noch mit Schaudern an die Warnungen vieler
beamteter Revolutionäre vor den politisch unberechenbaren Lumpenproletariern,
zu denen auch die Behinderten gezählt wurden.
TRITT: Bei allem Respekt für ihre Lage: Heißt das nicht,
die Bedeutung der Behinderten für die Linke grotesk überzubewerten?
GROLL: Keinesfalls! Der Aufstand der russischen Proleten war zu großen
Teilen ein Aufstand der Lumpenproletarier, Kriegskrüppel, Invaliden,
Arbeits- und Wohnungslosen. In jeder Revolution, die in den Straßen
ausgefochten wurde, war der Anteil der Deformierten, der späteren
„Ballastwesen“, unverhältnismäßig hoch. Der Abscheu der
Bürger vor den Kommunisten war auch der Abscheu vor den in den Reihen
hinkenden oder rollenden Krüppeln. Nehmen Sie nur die Ausrufung der
österreichischen Republik im Oktober 1918: auf den Fotos erkennen
Sie überwiegend Kriegskrüppel - einbeinige, blinde, verwachsene,
skrofulöse Menschen. Das Masssaker am Gründonnerstag 1919 in
Wien: nahezu alle Getöteten waren Kriegsinvalide! Die Angehörigen
des „Arbeiter- und Soldatenrates“, der die Macht im Jahr 1920 innehatte:
nur wenige Nichtbehinderte. Dieselbe Situation in Italien, in Deutschland,
in der Slowakei, in Ungarn. 1927, die Ermordung von Schattendorf: der Kriegsinvalide
Csmarits und ein Kind. Nein, geschätzter Magister, wir dürfen
nicht die Augen davor verschließen, daß sowohl die Sozialdemokraten
als auch die Kommunisten in den Jahren des kapitalistischen und sozialistischen
Aufbaus in dieser Frage auf der ganzen Linie versagt haben. Für die
Revolution waren die Krüppel gut genug. Staat wollte man mit ihnen
aber keinen machen. Der reale Sozialismus sperrte sie in Heime, nie erlangten
sie die Freiheit, ihren Bedürfnissen gemäß zu leben. Zwar
wurden den Behinderten untergeordnete Arbeiten zugeteilt, die baulichen
und sozialen Barrieren aber wuchsen mit der Saturiertheit der Revolutionäre
ins Skandalöse. Im Rollstuhl den Alexanderplatz zu überqueren,
die Altstadt von Krakau zu befahren oder in Budapest eine Behindertentoilette
zu finden, das waren Extremsituationen, die mit der Kurker Panzerschlacht
verglichen werden müssen! Für mich gibt es keinen Zweifel, daß
in diesen Beispielen nicht nur abgrundtiefe Borniertheit, sondern mehr
noch, eine generelle Menschenfeindlichkeit sich ausdrückt.
TRITT: Sie bringen mich noch soweit, daß ich als Sozialdemokrat
die Kommunisten vor Ihnen in Schutz nehme!
GROLL: Warten Sie erst ab, was ich über die Sozialdemokratie zu
Protokoll gebe. Aber noch sind wir beim realen Sozialismus. Es stimmt:
Behinderte bekamen ihren Trabant schneller als Nichtbehinderte. Es stimmt:
Sie durften auch in den Westen reisen, um ihre Rollstühle zu reparieren
zu lassen.
TRITT (schreibt): Sehen Sie!
GROLL: So mancher Verantwortliche hoffte wohl, sie würden im Westen
bleiben. Die große Sowjetunion, die Sibirien und den Weltraum erschloß,
die Flüsse umleitete, Wüsten bewässerte und Millionen Panzer
produzierte, war nicht in der Lage, eine funktionierende Hilfsmittelversorgung
auf die Beine zu stellen. Haben Sie einmal sowjetische Rollstühle
gesehen? Bei ihrem Anblick glaubte man, eine Selbstfahrlafette aus der
Zeit Iwans des Schrecklichen vor sich zu haben.
TRITT (schüttelt den Kopf und schreibt eifrig in das Notizbuch.)
GROLL: Anfang der achtziger Jahre erteilte der Stadtrat in Frankfurt
an der Oder der evangelischen Kirche die Erlaubnis, für einen querschnittsgelähmten
Burschen zu sammeln, er sollte einen Westrollstuhl erhalten. Und das, nachdem
der Bedauernswerte ein volles Jahr im Bett gelegen hatte.
TRITT: Das ist nicht wahr!
GROLL: Das dachte der Betroffene auch. Einem durch Kinderlähmung
schwer gehbehinderten Mitarbeiter eines großen Berliner Verlages
mutete man eine Wohnung im sechsten Stock ohne Lift zu.
TRITT: Unmöglich!
GROLL: Eine Tatsache. Ein Bluter mußte von Woche zu Woche um
seine lebenswichtigen Medikamente bangen. Das VEB Arzneimittelwerk war
nicht in der Lage, kontinuierlich zu liefern.
TRITT: Aufhören!
GROLL: In ungarischen Schulen wurden behinderte Kinder strikt von ihren
nichtbehinderten Artgenossen getrennt. In der polnischen Stadt Bialystok
durfte ein muskelkrankes Mädchen nicht einmal mit Gleichaltrigen in
denselben Kindergarten.
TRITT: Dabei hätte der Reale Sozialismus erstmals die Voraussetzungen
für ein menschenwürdiges Leben behinderter Menschen geboten,
frei von Faschisten, Ausbeutern und mächtigen Dummköpfen.
GROLL: Doch der Feind der Behinderten saß von allem Anfang an
mit am Tisch, saß im Politbüro, saß in den Parteivorständen,
und dieser Feind hieß: Rassismus.
TRITT: Ich weigere mich, das zu glauben!
GROLL: Dann hören Sie folgende Geschichte: im Jahre 1982 fuhr
ich mit dem Auto in die DDR, und an der Grenze fragte mich der Zöllner:
„In welchem Ausmaß sind Sie denn schwerbeschädigt?“
TRITT: Schwerbeschädigt?
GROLL: Sie hören recht. Wer behinderte Menschen als schwerbeschädigt
tituliert, degradiert sie damit zum Wesen jenseits der Person, einer Maschine
näher stehend als einem Menschen. Die Unterdrückung behinderter
Menschen zählt dann nur als Sachbeschädigung, wie die Ermordung
eines Hundes.
TRITT: Ich bin entsetzt!
GROLL: Als ich den Zöllner dieses unsägliche Wort aussprechen
hörte, war mir klar, daß es mit dem humanistischen Gehalt der
„entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ nicht so weit her sein kann;
und als ich, Jahre später, in einer Rostocker Buchhandlung das Buch
„Schwerbeschädigtengesetz der DDR“ erwarb, stand für mich fest:
In den sozialistischen Staaten behindert zu sein, ist ein empörend
schweres Los.
TRITT: Niemand hat davon gesprochen.
GROLL: Die Defekte des Sozialismus wollte man nicht an seinen Bürgern
verwirklicht sehen. Deswegen wurde der „allseitig vervollkommnete sozialistische
Körper“ auf Universiaden und Spartakiaden in einer Art und Weise vergötzt,
die Leni Riefenstahl mit Genugtuung erfüllt haben muß. Der defekte
Körper, der defekte Geist aber wurde in Sonderanstalten gesperrt,
die eher Atombunkern denn Sanatorien glichen.
TRITT: Ein monströser Vergleich! Aber ich gebe Ihnen zu: Die Bilanz
der Staatskommunisten in der Behindertenfrage scheint niederschmetternd.
Lassen Sie uns nun aber von der Sozialdemokratie sprechen.
GROLL: Wie Sie wollen! In gewisser Hinsicht ist sie noch bösartiger
mit den Behinderten umgesprungen als die Kommunisten. Zur Borniertheit
der Kommunisten gesellte sich bei ihr noch ein gerüttelt Maß
an Feigheit und Verschlagenheit.
TRITT: Das müssen Sie begründen!
GROLL: Nichts leichter als das. Die Kommunisten versteckten die Behinderten,
weil diese nicht in ihr Weltbild vom flözhauernden, Pipeline-bohrenden
und stahlabstechenden Stachanow paßten. Die Sozialdemokraten aber
gingen darüber hinaus, sie sorgten sich darum, die vielen Euthanasiefanatiker
nicht zu verschrecken - Wählerstimmen, ohne die die Mehrheit nicht
zu erzielen ist.
TRITT: Das gilt aber nicht für die ersten Jahre der Regierung
Kreisky!
GROLL: In der ersten sozialistischen Alleinregierung Österreichs,
dem Kabinett Kreisky I, das am 21. April 1970 von FPÖ-Gnaden zustandekam,
waren vier von zwölf Ministern ehemalige Angehörige von SS und
NSDAP. Kann es da verwundern, daß ein des hundertfachen Mordes an
geistig Behinderten überführter Mann, Primarius Dr. Heinrich
Gross, Mitglied des „Bundes Sozialistischer Akademiker“, meistbeschäftigter
Gerichtspsychiater Österreichs und Inhaber der weltgrößten
Sammlung von in Spiritus eingelegten Hydrocephali, im Volksmund „Wasserköpfe“
genannt, vom SPÖ-Justizminister Broda gedeckt wurde? Auch der Kommandant
des Wilnaer Ghettos, Murer, wurde nie angeklagt. Sein Sohn Gerulf stellte
sich als hoher FPÖ-Politiker schützend vor ihn. Der langjährige
Parteivorsitzende der FPÖ, Friedrich Peter, wurde als ehemaliges Mitglied
einer SS-Mordbrigade enttarnt - keine Anklage. Horst Silberbauer, der Mann,
der Anne Frank verhaftet hatte und dem Simon Wiesenthal Dutzende Verbrechen
nachweisen konnte, versah jahrzehntelang als Polizist in Wien Dienst und
ging hochdekoriert in Pension; die Jahre, die er für die GESTAPO während
des Krieges in Holland gearbeitet hatte, wurden ihm selbstverständlich
angerechnet. Die wenigen Überlebenden des Euthanasie-Vernichtungslagers
Hartheim erhielten nicht einmal eine Entschädigung.
TRITT: Die Laxheit im Umgang mit den Nazis war der Preis für die
Unabhängigkeit.
GROLL: Während der Anwesenheit der Alliierten wurden in Österreich
800 Kriegsverbrecherprozesse geführt, nach ihrem Abzug 1955 kam es
nur mehr zu 26 Kriegsverbrecherprozessen, von denen 16 Fälle mit geringfügigen
Verurteilungen endeten. Mit Antritt der Regierung Kreisky II im Jahre 1972
wurden überhaupt alle Kriegsverbrecherprozesse eingestellt, obwohl
ausreichende Anklagen gegen Hunderte unbehelligt in Österreich lebende
Kriegsverbrecher bestanden. Wundert Sie das, daß in den siebziger
Jahren die Ghettoisierung behinderter Kinder in Sonderschulen verstärkt
betrieben wurde? Daß zur selben Zeit in Italien alle Sonderschulen
ersatzlos gestrichen wurden und die Integration behinderter Kinder ins
Regelschulwesen erfolgte, wurde von sozialistischen Bildungspolitikern
ignoriert.
TRITT: Aber gerade im Bildungsbereich hat die SPÖ eine große
Vergangenheit! Bedenken Sie die Errungenschaften des „Roten Wien“!
GROLL: Ich will sie nicht schmälern. Trotzdem füge ich hinzu,
daß der berühmte Sozialhygieniker - man betrachte nur dieses
Wort!, Julius Tandler, nicht davor zurückschreckte, „lebensunwertes“
Leben zu unterscheiden.
TRITT: Sie haben aber an jedem etwas auszusetzen!
GROLL: Ich sage, was ist. Es war die Wiener SPÖ, die sich bis
zuletzt gegen die Einführung des Pflegegeldes wehrte. Behinderte sollten
ihrer Ansicht nach nicht mit Geld und der damit verbundenen gesellschaftlichen
Macht ausgestattet werden, man war nur zur unzureichenden Sachleistung
bereit. Die Hauptgegner der Einführung des Pflegegeldes waren nicht
die bürgerlichen und kirchlichen Parteien und Gruppierungen, unser
Hauptgegner war die vereinte Sozialdemokratie, der Finanzminister, der
Sozialminister, der Wiener Finanzstadtrat, der Präsident der Arbeitskammer,
der Präsident des Gewerkschaftsbundes. Ich bemühe mich nach Kräften,
die Erinnerung unter meinen behinderten Kollegen und Kolleginnen daran
wachzuhalten, daß wir selbst es waren, die das Pflegegeld in einem
15 Jahre währenden Sozialkrieg erkämpften!
TRITT: Und ich erinnere mich daran, daß auch der „Kriegsopferverband“
gegen die Einführung des Pflegegeldes für sogenannte Zivilinvalide
protestiert hat, und der ist wahrlich nicht sozialdemokratisch ausgerichtet.
GROLL: Deswegen war es uns auch ein Leichtes, ihm das Maul zu stopfen.
Wesentlich schwieriger war dagegen unser Stand in einer sozialdemokratischen
Wohnhausanlage. Dort zirkulierten Unterschriftenlisten, auf denen Nichtbehinderte
dagegen protestierten, daß Behinderte Waschmaschinen für ihre
Wohnungen erhielten. Die Nichtbehinderten wollten nicht einsehen, daß
die Waschmaschinen von der Behindertenvertretung durchgesetzt wurden, weil
die Rollstuhlfahrer die Gemeinschaftswaschküchen wegen der vielen
Stufen nicht benützen konnten. Dasselbe galt für die Saunen und
alle 300 Gemeinschaftsräume, die allesamt für Gehbehinderte unerreichbar
waren. Es dauerte Monate, bis eine Gerätekammer als Sportraum für
Behinderte durchgesetzt, es dauerte Jahre, bis eine Sauna adaptiert wurde.
Das alles geschah unter den wachsamen Augen der örtlichen Sozialdemokratie;
die Behinderten erhielten von deren Seite nicht nur keine Hilfe, im Gegenteil,
es waren Funktionäre der SPÖ, die die Unterschriften sammelten.
TRITT: Und es fanden sich Mieter, die niederträchtig genug waren,
ihre Unterschrift zu leisten?
GROLL: 272 von 626. Und bei Hausversammlungen unter Aufsicht der SPÖ
wurden Behinderte beschimpft; die Gattin eines Bezirksfunktionärs
der SPÖ ging noch weiter, sie warf Behinderten vor, über ungerechtfertigte
Privilegien wie einen Parkplatz vor der Wohnung zu verfügen, sie forderte
deshalb dasselbe auch für Nichtbehinderte. Wenn Sie glauben, daß
die SPÖ ein Wort der Entschuldigung, ein Wort der Distanzierung gefunden
hat, haben Sie sich getäuscht. Im Gegenteil, gegen einen erzürnten
Rollstuhlfahrer, ein SPÖ-Mitglied, wurde in der Folge ein Parteiausschlußverfahren
angestrengt.
TRITT: Gehe ich recht in der Annahme, daß sich diese Vorfälle
in ihrem Gemeindebau ereigneten?
GROLL: Ja, und ich komplementiere das Bild von der Floridsdorfer SPÖ,
indem ich Ihnen sage, daß nach der letzten Gemeinderatswahl, bei
der die FPÖ mit ihrem „Ausländer-raus“-Wahlkampf fast ein Viertel
der Stimmen bekommen hatte, das Sektionslokal der SPÖ geschlossen
wurde. Die Folge war, daß bei der jüngsten Nationalratswahl
der FPÖ-Anteil in diesem Wahlsprengel über 50 Prozent geklettert
ist, und das trotz der Tatsache, daß nach wie vor rund ein Dreiviertel
der Mieter SPÖ-Mitglieder sind.
TRITT: Wo arbeiten diese Leute?
GROLL: Beim Magistrat, bei den Verkehrsbetrieben, den städtischen
Wasserwerken, der Wiener Polizei - alles sozialdemokratische Hochburgen.
Während der SPÖ-Bundeskanzler Haider ausgrenzt, betreibt sein
Innenminister Löschnak die Haidersche Ausländerpolitik, und die
SPÖ-Mitglieder wählen FPÖ. Tatsache ist, daß die Partei,
die Haider verbal am stärksten bekämpft, in ihren Taten und Nicht-Taten
das meiste dazu beiträgt, daß Haider immer stärker wird.
TRITT: Mir scheint, daß Sie zu sehr von einer Floridsdorfer Sicht
der Dinge geprägt sind.
GROLL: Wäre es nur so! Vor Jahren besuchte ich ein Konzert in
der Stadthalle in Wien-Fünfhaus. Ich hatte rechtzeitig eine Behindertenkarte
für mich und meine Begleiterin besorgt. Nun sind die Behindertenparkplätze
in der Stadthalle so schlecht, daß man über eine schwarze Balustrade
kaum hinwegsieht, weswegen der Platz nicht zum Verkauf gelangt. Für
Behinderte aber ist er gut genug.
TRITT: Sicher ein Einzelfall!
GROLL: Irrtum, ein Normalfall. Im Theater an der Wien, im gewerkschaftseigenen
Volkstheater und im Akademietheater ist die Situation genauso. Unzumutbare
Plätze, die ansonsten nicht verkaufbar wären, wurden zu Behindertenplätzen
deklariert. In einem Fall sitzt man hinter einer Säule, im nächsten
auf einem holprigen Podest und im dritten so weit seitlich, daß man
der Schauspieler gewahr wird, wenn diese an die Rampe treten.
TRITT: Das ist beschämend!
GROLL: Vor allem ist es mühsam. Ich habe auf diese Art schon viele
denkwürdige Aufführungen erlebt. Mein Eindruck von den Stücken
unterschied sich aber deutlich von dem meiner nichtbehinderten Freunde.
Immerhin aber können Behinderte in diesem Theater Seite an Seite mit
ihren Begleitern sitzen, was im Konzerthaus oder der Stadthalle nicht möglich
ist.
TRITT: Warum?
GROLL: Fragen Sie den Stadthallendirektor. Ich bestand darauf, daß
meine Freundin auf einem Normalsitz neben mir Platz nehmen solle, die Stadthallenbediensteten
aber bestanden darauf, daß sie zehn Reihen weiter Platz zu nehmen
habe. Weil wir den Anpöbelungen nicht Folge leisteten, wurde ich mit
Polizeigewalt aus der Halle gezerrt. Als ich darauf den Leiter der Stadthalle
zu sprechen begehrte, hieß es, er habe keine Zeit. Daraufhin randalierte
ich solange, bis der Direktor sich schließlich doch herbeibequemte:
Noch bevor er etwas sagen konnte, rief ich ihm laut entgegen: „Da kommt
ja der Oberfaschist!“, worauf er mich anbrüllte, daß Behinderte
in der Stadthalle nie neben Nichtbehinderten zu sitzen kommen würden.
TRITT: Ich verstehe.
GROLL: Nicht verdrängen konnte ich allerdings die Tatsache, daß
der Behindertensprecher der SPÖ Guggenberger heißt.
TRITT: Was haben Sie denn an ihm auszusetzen? Arbeitet er schlecht?
GROLL: Er kann gar nicht ordentlich arbeiten; erstens ist er selbst
nicht behindert, was für einen Behindertensprecher in jedem zivilisierten
Land einen Ausschließungsgrund darstellt, und zweitens ist er Leiter
des Tiroler Landesinvalidenamtes.
TRITT: Was ist daran problematisch?
GROLL: Als Leiter des Landesinvalidenamtes untersteht er dem Sozialminister.
Als Behindertensprecher müßte er diesen aber ständig attackieren.
Ein klassischer Fall von Unvereinbarkeit.
TRITT: Das stimmt. Die Optik ist bedenklich.
GROLL: Nicht nur die Optik, Sie Weißwäscher, nicht nur die
Optik! Der Direktor der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt flog vor
einigen Jahren mit behinderten Sportlern zu einem Wettkampf nach Singapur.
Die Versehrtensportler drängten sich in der Touristenklasse, der Herr
Direktor aber belegte ein Luxusabteil, in dem für drei Rollstuhlfahrer
Platz gewesen wäre.
TRITT: Was kann die SPÖ dafür?
GROLL: Sie hat den Mann, einen ehemaligen Chauffeur, auf den Direktorposten
gehievt.
TRITT (triumphierend): Sie als Linker werfen einem Proletarier
dessen Herkunft vor?
GROLL: Keineswegs. Ich werfe ihm vor, nichts gelernt zu haben und darauf
auch noch stolz zu sein.
TRITT: Sie können aber nicht leugnen, daß unter Bundeskanzler
Vranitzky der Sozialstaat nicht wie in anderen westlichen -
GROLL: - und östlichen!
ITT: und östlichen Staaten demontiert wurde.
GROLL: Sie haben recht. Er wurde nicht demontiert, er wurde von innen
her ausgehöhlt. Und Vranitzky ist daran nicht unbeteiligt: der Präsident
der Dachorganisation der Behindertenverbände wartet schon seit Jahren
auf einen Termin beim Kanzler.
TRITT: Das glaube ich nicht. Ich gestehe Ihnen allerdings zu, daß
die Ökonomie manche wünschenswerte soziale Verbesserung untersagt.
GROLL: Die Ökonomie selbst untersagt gar nichts, Sie Roßtäuscher!
In unserem Fall ist die Ökonomie eine abgeleitete Größe
der Ideologie, und die Ideologie ist bekanntlich das Feld, auf dem die
Menschen sich der gesellschaftlichen Konflikte bewußt werden. Nur
bewußte Menschen können Sozialisten sein, gegen die Gefühlsduselei
in der Linken hat Marx schon vor 150 Jahren in der Schrift „Das Elend der
Philosophie“ gewettert. Die sozialistischen Staaten und der Sozialstaat
der Sozialdemokraten gehen gemeinsam unter. Wer sich um die Schwächsten
nicht kümmert, der kann auch keine Ökonomie führen. Die
Ikone beider Sozialismen war der schweißüberströmte, siegessichere
Facharbeiter. Muskeln wie ein Gebirge, Blick in die Ferne, Fäuste
wie ein Amboß. Der sozialistische Humanismus ist, was die Lage der
Behinderten betrifft, nichts als eine böse Karikatur auf eine Gesellschaft,
in der zumindest in der Perspektive jeder seinen Bedürfnissen gemäß
hätte leben können.
TRITT: Das ist ein niederschmetternder Befund.
GROLL: Das Menschenbild des Sozialismus ist - ich sage das als zukunftsfroher
Marxist - durch und durch rassistisch. Daß auch der gewöhnliche
Rassismus in der Linken tief verwurzelt ist, daran besteht ja mittlerweile
kein Zweifel mehr. Daß auch der gewöhnliche Rassismus in der
Linken tief verwurzelt ist, muß gerade behinderten Linken zu denken
geben.
TRITT: Da erhebt sich aber die Frage: Wozu überhaupt noch Linker
sein?
GROLL: Die Frage ist berechtigt. Aber sie ist leicht beantwortet, wenn
Sie die politischen Alternativen in Betracht ziehen.
TRITT: Ja, manchmal unterscheiden sich die Alternativen nur im Ausmaß
ihrer Entsetzlichkeit.
GROLL: Auf dieses wahre Wort hin trete ich Ihnen den Pinsel ab. Sie
dürfen den Rest streichen.
TRITT (überrascht): Vielen Dank! Sie werden es nicht bereuen.