Huber-Brief an Contat* zum Sartre-Vorwort

19. April 1988
Sehr geehrte Damen und Herren,

in der Französisch-Ausgabe zu "SPK - AUS DER KRANKHEIT EINE WAFFE MACHEN" fehlt das Sartre-Vorwort. In der Zeitschrift "OBLIQUE" haben Sie 1979 geschrieben, daß es Ihnen entgangen ist, welchen Grund das hatte. In der Annahme, daß Ihr Informationsbedürfnis, von dem ich erst kürzlich erfahren habe, noch immer besteht, will ich die Ursachen und Anlässe nennen.

Seit 1971 war ich als Gründer des SOZIALISTISCHEN PATIENTENKOLLEKTIV (SPK) wegen Stadtguerilla inhaftiert. Die von mir vorbereiteten SPK-Veröffentlichungen, insbesondere SPK - AUS DER KRANKHEIT EINE WAFFE MACHEN mit dem Sartre-Vorwort waren 1972 auf Deutsch erschienen, die ausländischen Ausgaben in Vorbereitung. Mein damaliger Verteidiger, Herr Rechtsanwalt Eberhard Becker aus Heidelberg, als Student im Bundesvorstand des SDS, hat es mir so im Gefängnis berichtet. Es war mir gelungen, ihn und durch ihn dann auch andere linke Anwälte dahingehend umzustimmen, Kontakt mit Horst Mahler aufzunehmen und dann auch mit Frau Meinhof, Ensslin, Baader und den anderen, um auch für die inzwischen inhaftierte RAF eine politische Verteidigung aufzubauen.

Von Frau Meinhof hat mir Herr Rechtsanwalt Becker bei einem seiner Gefängnisbesuche im November 1972 ein für mich bestimmtes Schreiben mitgebracht und vorgelesen, aus dem hervorging, daß Frau Meinhof und ihre Gruppe gleichermaßen wütend und verärgert, aber auch enttäuscht und, insbesondere was Frau Meinhof betrifft, verzweifelt darüber waren, daß Sartre das SOZIALISTISCHE PATIENTENKOLLEKTIV nicht nur zum selbständigen Weitermachen aufgerufen, sondern es darüberhinaus in klaren und unmißverständlichen Worten einer gleichermaßen revolutionären Überlieferung und einer modernen philosophischen Stringenz (Signifikant/Signifikat) vindiziert hatte.*

* Zusatz von Huber nach Telefonat vom 19.04.1988:
Es spricht übrigens alles dafür, daß Sartre, der bei weitem unabhängigere Philosoph der Krankheit, Körperlichkeit und Freiheit, verglichen beispielsweise mit einem Merleau-Ponty -, daß Sartre hier also besonders sorgfältig und gewissenhaft geprüft und entschieden hat. Es hängt sicher auch damit zusammen, daß erst neuerdings wieder die italienische Zeitschrift für Politik und Kultur INVARIANTI auf die brennende Aktualität des Sartre-Vorworts hingewiesen hat: für das Computer-Zeitalter und seine weltkatastrophalen Folgen sei dem von Engels und Sartre aufgezeigten Klassenantagonismus, gipfelnd in der Entfremdung des Patienten als Signifikat durch den Arzt als Signifikanten, nur noch in der vom SPK erstmals fixierten Weise zu begegnen (vgl. INVARIANTI No. 1, 2, 4; 1987/88). (Die PF hatte der INVARIANTI-Redaktion auf Anforderung zwecks Veröffentlichung unter anderem das Sartre-Vorwort ins Italienische übersetzt und zur Verfügung gestellt (vgl. ASSEMBLEA No. 7, 1984). Das Sartre-Vorwort konnten wir auf diese Weise immerhin wenigstens für Italien wieder zugänglich machen)
(Zus. Huber nach Telefonat vom 19.4.1988)


Lediglich aus Solidarität mit dieser Gruppe von Mitinhaftierten habe ich damals entschieden, daß bis auf weiteres alle SPK-Veröffentlichungen im Ausland, soweit sie nicht mehr zu stoppen wären, wenigstens ohne das Sartre-Vorwort erscheinen sollten. Ich habe daran allerdings auch die Bedingung geknüpft, daß die Mitinhaftierten nun endlich Gelegenheit nehmen sollten, die durch Sartre in seinem Vorwort eingebrachten Intentionen samt den damit verbundenen SPK-Inhalten kollektiv aufzugreifen und produktiv weiterzuführen. Noch bevor Sartre 1974 in Stammheim war, hat Baader davon abgeraten, daran weiterzumachen, weil dies im Gefängnis zu anstrengend sei. Versuche in der von mir genannten Richtung hatte lediglich Frau Ensslin übernommen, aber bald damit dann ebenfalls aufgehört, nachdem Frau Meinhof beim Versuch, anderen RAF-Gefangenen Prozeßreden zu schreiben, die von Sartre angezielte Materie falsch rezipiert hatte, indem sie beispielsweise den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als den vom SPK angeblich verfehlten Hauptwiderspruch (der Grundwiderspruch wurde von Frau Meinhof mit dem Hauptwiderspruch und dem Prinzip des historischen Materialismus** verwechselt) versucht hatte, der Signifikantenlehre und ihrer Handhabung durch Sartre einfach wieder überzustülpen.

** Zusatz von Huber, 1995
Heute und aktuell:
Grundwiderspruch: Widerspruch und Identität von Krankheit und Kapital.
Hauptwiderspruch: Patientenklasse gegen Ärzteklasse

Schließlich will ich erwähnen, daß Sartre selbst und auch niemand sonst je von mir die Sache mit dem Vorwort erklärt bekommen hat, weil mich manifeste und zu befürchtende Komplikationen mit Behörden daran gehindert haben. Auch hier erschien es mir wichtiger, die SPK-Sache weiterzuverfolgen und zwar nunmehr in Solidarität mit Sartre, gemäß seinen Warnungen und Ermutigungen im letzten Abschnitt seines Vorwortes, als zu meiner persönlichen Rechtfertigung beizutragen.

Habent sua fata libelli (Terentianus Maurus).

Mit freundlichen Grüßen

Huber W.D., Dr. med.

 

* Zusatz von SPK/PF(H):
Michel Contat, Mitarbeiter von Jean-Paul Sartre und Herausgeber der französischen Sartre-Gesamtausgabe

 

Ergänzendes zu der Frage:
Warum und weshalb gab es in der Vergangenheit Medienscheisserhetze gegen das SPK