Von wegen Krankheitsgewinn

Von einer Hohen Philosophischen Fakultät der BRD
- HEGEL zum Spaß "dem lebendigen Geist" geweiht -
zum Vortrag nicht zugelassen

VORBEMERKUNG

Aus dem Philosophischen Seminar "Ausgewählte Schriften zur Metapsychologie FREUDs" erreichte die Patientenfront die Aufforderung einer Studentin, eine wirksame Patientenkontrolle gegen die dort veranstaltete Schleichwerbung in Sachen Differentialeuthanasie einzuleiten. Ihre durchaus in kritischer Absicht vorgebrachten Beiträge zum Thema Teil-Ursache und Gewohnheit (vgl. weiter unten im folgenden Text) seien im Lob der Elite erstickt worden, und dieses Wohlwollen habe in der dringenden Bitte des Professors seine Krönung gefunden, das Ganze doch in Form einer über FREUD hinausführenden Seminararbeit öffentlich vorzutragen.

Nachdem er die Seminararbeit gelesen hatte, bestellte der Professor die Studentin in seine Sprechstunde. Er sei entsetzt. Der Arzt stehe doch über der Philosophie, denn nur e r könne heilen. Das habe er, der Philosophieprofessor, übrigens sogar schon dem SPK-Huber einzuschärfen versucht, lange vor der Zeit, als dieser noch Doktorand bei ihm war. Auch mit den Philosophen könne man s o nicht umgehen, überhaupt sei der Text Satz für Satz ein erbittertes Gefecht gegen alle Philosophen. Schicksal und Theorie dürfe man nie miteinander verknüpfen. Es fehle auch einfach die theoretische Geduld. Inhaltlich sei nichts daran auszusetzen, hoch interessant, die Diskussion müsse unbedingt weitergehen. Aber so stelle das Ganze eine wahnhafte Theodizee (Gottesrechtfertigung) der Krankheit dar, Gesundheit und Normalität seien doch wohl nicht identisch, und in den KZ's sei doch alles viel schlimmer gewesen.

Die Patientenfront hat diese Gelegenheit, eine Grundsatzerklärung zu unterstützen, um so bereitwilliger aufgegriffen, als FREUD ersichtlicherweise immer mehr zum Chefideologen des modernen medizinischen Mordmonopols aufrückt: Wo immer der Tod Arzthelfer wird, in Jonestown, am Lügendetektor, in der Folterzelle, wird die Katastrophe nach allen Regeln von Todestrieb, Neubeginn und Wiederholungszwang programmiert und kodifiziert. Daß sie dann hinterher genauso entschlüsselt und ausgelegt wird, hat jeder Leser der öffentlichen Berichterstattung gewohnheitsmäßig schon oft genug mitvollzogen.

Aber die Philosophische Fakultät als eine der Waffenschmieden einer Iatroinquisition, die ohne universitären Hintergrund zumindest grundlagenwissenschaftlich unmöglich wäre - das war sogar uns neu.

Für die Patientenfront

Von wegen Krankheitsgewinn

FREUD im philosophischen Seminar. Kann das gut gehen? Mit den Philosophen hatte FREUD zeitlebens wenig im Sinn, so wenig wie etwa die Kollegen Ärzte im allgemeinen mit ihm. Den Ärzten ist er, letzten Endes glücklos, aus dem Weg gegangen. Vorausgesetzt man hält die Euthanasie an FREUD in London für das Unglück, als das sie, seit ihrem letzten Geburtsjahr 1939, üblicherweise bislang noch gilt. In "Jenseits des Lustprinzips", einer Schrift, die FREUD ausdrücklich als Metapsychologie im Sinn von Metaphysik verstanden wissen will, hat er sich spät, vielleicht zu spät auf metaphysisches Glatteis begeben. Zeit für die Philosophie, davon Notiz zu nehmen.

Geht es in diesem Seminar um FREUDs Metapsychologie, so kann der Anfang nur das Jenseits der Lust sein, denn Lust ist für FREUD etwa seit 1915 nicht mehr Prinzip, d.h. Ausgangspunkt, Anfang und Grundlage. FREUD hat das Lustprinzip experimentierend entdeckt, "philosophierend" überwunden, ob es philosophierend gelingt, FREUD zu überwinden, ohne die Lust am Experiment zu verlieren? Das hieße freilich statt, wie FREUD mit einem großen X zu theoretisieren, mit Unendlich hoch X zu experimentieren, d.h. sich selbst als Teil eines philosophischen Experiments zu betätigen. Doch davon im Folgenden mehr.

Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Lust beim Thanatos, beim Todestrieb am besten aufgehoben ist, und genau um diese Nirwanalust geht es in der Metapsychologie. "Angesichts solcher Beobachtungen aus dem Verhalten in der Übertragung und aus dem Schicksal der Menschen werden wir den Mut zu der Annahme finden, daß es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaussetzt."

Die Lust fürs Erste einmal aus dem Spiel zu lassen, dort wo es um Leiden, Sterben und Schicksal, kurz: um Krankheit geht, diese mit FREUD als von Lust unterscheidbare Qualitäten wiederholend zur Kenntnis zu nehmen, um nicht zu sagen als Qualen, als Anfänge, als Prinzipien und eigenständige Aktivitäten, wäre nicht verkehrt, das Gegenteil schon eher pervers. Das war der Ausgangspunkt der Kontroverse in der zweiten Seminarsitzung.

Ich hatte der These, daß man Lust vor und bei Schmerzen hat, folgende Äußerung aus der ETHIK des SPINOZA entgegengehalten: "Umgekehrt sage ich, daß wir leiden, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht oder Ausfluß unserer Natur ist, von welchem wir lediglich Teil-Ursache sind."
Wozu die Lust an der Krankheit, den Krankheitsgewinn sozusagen, ausgerechnet bei den Gebeutelten suchen? Mit anderen Worten: ist die Lust wirklich Patientensache oder nicht vielmehr ärztliches Kunstprodukt? Übrigens hat FREUD seinen frühen Befund, wonach der Patient gepeitscht werden will, um seinen Spaß zu haben, zwar in der Rede vom primären Masochismus verallgemeinernd versichert. Aber die Trennschärfe für die Lustmythologie der Therapeuten und die Prügel, die anderen nur(!) Schmerzen bereiten, scheint dadurch nicht größer geworden zu sein.

So sehr es sich darum handelt, die Lust fürs Erste aus dem Spiel zu lassen, so wenig kann es, aufs Ganze gesehen, darum gehen, SPINOZA gegen FREUD auszuspielen. Die metapsychologischen Erwägungen FREUDs, - Topik, Dynamik und Energieökonomie verrechnend - geben langfristig dem Leben keine Chance, der anorganischen Materie jede. Auch SPINOZAs Metaphysik, in der Gott, Natur, Mensch und Geist eins und dasselbe sind, ist vom Ansatz her integraler Materialismus.

Im Einzelnen gibt es weder bei FREUD noch bei SPINOZA Zufälliges oder gar Ungewöhnliches. SPINOZA setzt die "Freiheit in die freie Notwendigkeit", FREUD den Wiederholungszwang, der eine das Prinzip Nirwana, der andere die Aktivität der persönlichen Erlösung. Beide haben sie das Heil fest im Griff, die Gesundheit, die Norm und das Natürliche des Lebens und des Sterbens und sei es in allen Variationen und spiegelbildlichen Umkehrungen, SPINOZA geometrisch demonstrierend, FREUD analytisch kalkulierend, beide aus überlegener Distanz. Der Einzelne sucht sein Heil bei FREUD so vergebens, wie die Teil-Ursache das Wir in der Normalbürger-Demokratie. Und die Patienten aus FREUDs metapsychologischer Sicht? "Sie streben den Abbruch der unvollendeten Kur an...", aber dasselbe "kann man auch im Leben nichtneurotischer Personen wiederfinden." Und SPINOZA sub specie aeternitatis anläßlich seiner abgelehnten Berufung 1672 an die Universität Heidelberg: "Denn Entzweiungen entstehen ... aus der Verschiedenheit menschlicher Affekte ... die alles, auch das richtig Gesagte, zu verkehren und zu verdammen pflegt." Sätze, die sich für den Kundigen anhören, als seien sie aus der Sprechstunde geplaudert.

Bei all dem weiß SPINOZA schon so gut wie FREUD, wie man einen Affekt heilt: Indem man an seine Stelle einen anderen, stärkeren setzt. Am Besten die liebe Liebe. Das Mittel heißt Bewußtmachung (FREUD), denn der Verstand ist der stärkste Affekt. Die Freiheit aber zu all diesem sitzt, wie gesagt, in der Notwendigkeit. Sie sitzt in demselben Wiederholungszwang, durch den sich, folgt man FREUD (s.o.), der Patient an den Arzt übermäßig bindet, auf jeden Fall aber, so oder so, sich von ihm befreit, und zwar nicht nur der Patient, denn "dasselbe, was die Psychoanalyse an dem Übertragungsphänomen der Neurotiker aufzeigt, kann man auch im Leben nichtneurotischer Personen wiederfinden. Es macht bei diesen den Eindruck eines sie verfolgenden Schicksals, eines dämonischen Zuges in ihrem Erleben, und die Psychoanalyse hat von Anfang an solches Schicksal für zum großen Teil selbstbereitet und durch frühinfantile Einflüsse determiniert gehalten...".
Die Psychoanalyse hat also nicht umgelernt? Wo sie früher die böse Lust der Patienten am Werk sah, müßte sie heute, wäre sie auch nur halbwegs konsequent, so wird man folgern dürfen, die ganze Menschheit eigentlich längst in den Patientenstatus des Wiederholungszwangs entlassen haben.

Ist der Krankheitsgewinn Patienten- oder Arztsache, wenn die "negative therapeutische Reaktion" prinzipiellen Charakter hat, die Therapie folglich mit dem FREUD des "Ich und Es" (1923) endgültig abgedankt hat, ohne ärztlich in der Lage zu sein, den Gewinnverzicht zu leisten und geschlossen zurückzutreten?

Lust und Wiederholung, Eros und Thanatos, dualistische Gegensätze, wie Feuer und Wasser, ein Dualismus übrigens, den FREUD auf keinen Fall aufgeben will, haben dasselbe Ziel: Die (Wieder)herstellung eines spannungsfreien End- und Urzustands. Was denn eigentlich sonst, als die Eu-thanasie?
Von SPINOZA weiß man, daß er nach allen Regeln der Philosophie lebte und starb. FREUD nach den Regeln der ärztlichen Kunst. SPINOZA ein Vorbild, FREUD eine Warnung?

Das Wort "selbstbereitet" im vorstehenden Zitat führt in den Kern der Kontroverse zurück. Hier liegt zugleich der Punkt der Differenz zwischen FREUD und SPINOZA.
Für SPINOZA gibt es dieses FREUDsche universale Selbstverschulden nicht, denn: "Jedes Ding kann nur von einer äußeren Ursache zerstört werden." Es kommt hinzu, daß SPINOZA, ganz im Unterschied zu FREUD, seine Lehrmeinung beweisen kann. Schlicht und ergreifend. Hier sein Beweis: "Dieser Satz versteht sich von selbst. Denn die Definition jedes Dings bejaht das Wesen dieses Dings, verneint es aber nicht; oder sie setzt das Wesen des Dinges, hebt es aber nicht auf. Wenn wir also nur das Ding selbst, nicht aber eine äußere Ursache ins Auge fassen, werden wir an ihm nichts finden können, was es zerstören könnte. Was zu beweisen war."

Auch von dem scheinbaren Trieb-Dualismus FREUDs, dessen einheitliches und wesentliches Ziel ja die Eu-thanasie, die Todeslust ist, wußte SPINOZA das Subjekt (sujet hat noch im Französischen des Cartesianers die Bedeutung Patient) zu entlasten: "Die Dinge sind insofern entgegengesetzter Natur, d.h. sie können insofern nicht in ein und demselben Subjekt sein, als das eine das andere zerstören kann." In dem an diesen Satz aus der Affektenlehre anschließenden Beweis bezeichnet es SPINOZA als geradezu widersinnig, daß die Ursache der Zerstörung im Subjekt liegen soll, z.B. die Lust am Leiden.

Tja, wird man einwenden, die Philosophen können viel behaupten, aber die Beweise, schon gar diejenigen SPINOZAs beweisen gar nichts. Alles faule Metaphysik, ratio ignava, kann man mit KANT kritisch einwenden, alles Tautologie, doppelt gemoppelt mit HEGEL. Zugegeben auch, daß FREUD seine Metapsychologie ausdrücklich als Spekulation verstanden wissen will, könnte man weiter räsonnieren, aber wo hätte er je gerade in so grundlegenden Fragen seiner Theoriebildung den sicheren Boden einzelwissenschaftlicher Beobachtung gegen freischwebende philosophische Spekulation vertauscht?
Nun, die einzelwissenschaftliche Grundlage der metapsychologischen Theorie FREUDs, das Spontanexperiment sozusagen, das all seine nach innen, wie nach außen gerichteten Vorstellungen muß begleiten können, ist die Verletzung, das Trauma, das den Körper v o n a u ß e n trifft, und zwar so plötzlich, daß weder Angst, noch Furcht im Spiel gewesen sein können, geschweige denn das Seelische, etwa als schockverursachend, in Betracht kommt.

Es handelt sich also bei dem erfahrungswissenschaftlichen Grund- und Prüfstein der bei FREUD so subjektfeindlichen, thanatophilen Theoriebildung um genau dieselbe Partikularität eines nur durch Fremdeinflüsse verletzbaren Körpers, die bei SPINOZA Sporn des selbsttätig überwindbaren Leidens ist. Bei FREUD aber wird diese Partikularität am Modell der traumatischen Neurose zur Eintrittspforte des Zwangs zur Wiederholung, bis zur Lust des Todes für jedermann, vor allem aber des Krankheitsgewinns in Verbindung mit einem okkulten Selbstverschulden, das er den Patienten unterstellt.

Es macht also keinen Unterschied, ob hier spezialwissenschaftlich oder schulphilosophisch vorgegangen wird. Exakt der in seiner Verletzbarkeit isolierte Einzelkörper ist stillschweigendes Substrat der Theorien und der metapsychologischen und metaphysischen Praktiken, um die es hier geht. Es macht deshalb auch keinen Unterschied, daß FREUD von Krankheit spricht, SPINOZA von Leiden. Zwar gibt es Autoren (LAKEBRINK), die ausdrücklich davor warnen, Affekte als Schmerz oder Leidenschaft und dergleichen mißzuverstehen. Dieser wohlmeinende Rat, überwiegend philosophischer Herkunft übrigens, ist, zumal im vorliegenden Zusammenhang, völlig gegenstandslos. Denn der Metaphysiker hat sich vorgenommen, die Affekte genauso zu behandeln, als ginge es um das Wechselspiel physikalischer Körper draußen in der Natur und der Metapsychologe behandelt das Wechselspiel freigesetzter und gebundener Energien im isolierten Patientenkörper, als ginge es um ein Experiment im physikalischen Labor. Bei so viel Naturverbundenheit zu den Gesetzmäßigkeiten der Physik auf Seiten des Metaphysikers SPINOZA nicht minder, als auf Seiten des Metapsychologen FREUD kann es sich beim Versuch, zwischen Krankheit beim einen und Leiden beim andern zu unterscheiden, nur um eine müßige Wortklauberei handeln. Schließlich kann in diesem Zusammenhang auch auf die vielgerühmte Menschenliebe FREUDs verwiesen werden, die es nicht zulassen will, in Krankheit etwas anderes zu sehen, als die r e a k t i o n ä r e Verzerrung und Übertreibung des Normalen und Gesunden, ganz so, wie auch bei SPINOZA Normalität und Gesundheit unter dem Titel von Heil und All-Seligkeit letztgültiger Maßstab des Leidens (der passiones und affectiones) und seiner Überwindung sind.
Und im Zeichen der Gesundheit, als oberstem Postulat, wußte sich der schwindsüchtige Metaphysiker in Theorie und Lebenspraxis genauso scharf sogar gegen Anflüge von Mitleid abzugrenzen, wie der krebskranke Metapsychologe gegen Selbstmitleid.

Da SPINOZA, als Schüler des DESCARTES, in den Tieren nichts anderes zu sehen gewohnt war, als empfindungslose Maschinen und Automaten, besteht kein Grund, in seinem Spaß an stundenlangen Tierquälereien, wobei er genüßlich zusah, wie sich Kreuzspinnen über Stubenfliegen hermachten, die er ihnen gefangen und lebend ins Netz gesetzt hatte, etwas anderes zu sehen, als den Machtausdruck der Illusion überlegener Gesundheit. Es erhebt sich dabei natürlich von selbst die Frage, ob die Lust am Schmerz, wie sie die Psychoanalyse in der Krankheit gewahrt, nicht auf ähnlich rechtwinkligen Wegen in die Energieökonomie des Patientenkörpers gelangt ist; more geometrico demonstrierend und dämonisierend, sozusagen.

Der Einzelkörper, die Norm und die Energie - - streicht man FREUD und SPINOZA aufs Wesentliche zusammen, dann bleibt an Systematik außer diesem magischen Dreieck nichts. Jedenfalls nichts, was sich auf Krankheit und Leiden, Lust, Unlust und Krankheitsgewinn bezieht. Aber es kommt noch besser: Energie setzt sich über den Einzelkörper hinweg, denn sie ist zwar ein quantifizierbarer und qualifizierbarer Körper, hat aber keine Gestalt. Das ist auch FREUD bekannt. Seine falsche metaphysische Grundannahme in Sachen Krankheit ist: Der Patient als Einzelkörper.
Aber wie über die Einzelkörper die Energie, so setzt sich Krankheit über die Naturgesetze (!) und über ihre normgebundenen Sachwalter hinweg.
Beim Energiebegriff liegt der Beweis für diese Feststellung eben im Begriff (Körper ohne Gestalt), also auf der Hand. In Sachen Krankheit in der unumkehrbaren Normwidrigkeit und Widernatur ihrer Wirklichkeit.

Dies vorausgesetzt, hat die Krankheitswirklichkeit mit Lust und Unlust natürlich erst recht nichts mehr zu tun. In der philosophischen Systematik entspricht die Sphäre der Naturnorm und des Unwillkürlichen, einschließlich dessen, was man Naturgesetzlichkeit nennt, der Gewohnheit(*), als einer ersten Natur, die zugleich und mit allem andern Drum und Dran auch unsere zweite Natur ausmacht, die ebenfalls Gewohnheit, um nicht zu sagen: potenzierte Naturgewalt ist.

(*) Natur = 1. Gewohnheit, Gewohnheit = 2. Natur

NOVALIS, aus der v. Hardenberg'schen Familie der Ärzte und Sozialreformer hervorgegangen, Goethe-Zeit, kann sich den Mechanismus der Naturgesetze nicht anders vorstellen, als so entstanden, daß ihr heiles Wesen Kunst war, bevor es, durch Gewohnheit, als Physik im weitesten Sinn, verkörpert wurde ("Naturgesetze sind Gewohnheitsgesetze"). Für BLAISE PASCAL (17. Jhdt., also lange vor NOVALIS) ist die ganze Menschennatur explizit eine erste Gewohnheit, die nur noch das Charisma (die Gnadenwahl, vgl. Paulus) über sich, und die Neuerer aller Zeiten gegen sich hat. Im Zusammenhang mit FREUDs Metapsychologie wird man aufmerksam registrieren, daß schon ARISTOTELES, der Arztsohn, in der Gewohnheit das universale Werkzeug zur Erzeugung von Lust zu würdigen gewußt hat, lange bevor der verhinderte Arzt FRIEDRICH NIETZSCHE die "Süssigkeiten" (gemeint: die kleinen Lüste) verherrlicht hat, die ihm die lobenswerten "kurzen Gewohnheiten" zu ermöglichen, die langen Gewohnheiten zu vermiesen in der Lage sind. Die Technik, Lust in Unlust, Unlust in Lust zu verwandeln, war also, als naturgenormte Gewohnheit mit Heilsaspekt, bekannt und in Anwendung, lange bevor FREUD sich veranlaßt sah, ausgerechnet so Nebensächliches wie Witz und Humor, umständlich bis zum Ächzen im Gebälk, verstrebt mit Verdrängung, Ich und Überich, Mutter, Vater und Kind und Totem und Tabu, zu Spontanäußerungen zu erklären, mit denen man, weil es dabei so energiesparend zugeht (Energieökonomie!), Unlust in Lust verzaubern kann. Obendrein sind dies in FREUDs Augen auch noch Techniken, durch die derjenige, der sich ihrer übermäßig bedient, von wegen "illusionärer Realitätsbewältigung" aufpassen muß, daß ihn nicht der Arzt vom Fach, mindestens aber der Henker holt. Zwar sind philosophische Zeitgenossen FREUDs, so beispielsweise ERDMANN (1882) und CHEVALIER (1939), von FREUD unbeachtet, auf das energieökonomische Modell nicht minder eingeschworen, denn sie finden es als Minimax-Regel (minimaler Energieaufwand, um die immer gleiche maximale Wirkung zu erzielen) in jedes Naturgesetz und in jeden Akt der Gewohnheit eingeschliffen vor. Aber irgendwelches ominöse Luststreben oder Todesbetreiben über den natürlichen Weltlauf hinaus zu bemühen, hat sich in all diesen Fällen die philosophische Systematik nicht einfallen lassen. Es sei denn der eine oder andere unter Hinweis auf die Wärmetod-Hypothese (Entropie), wohlwissend, daß es sich dabei nicht um Metaphysik, sondern um biedere Verallgemeinerung einzelwissenschaftlichen Stückwerks handelt.

Die Metapsychologie und ihr Jenseits, Ödipus und - wenn man da einen Unterschied machen will - Thanatos sind Mythos, blutig realer Mythos, in theoretischer Hinsicht aber lediglich gewohnheitsrelative Sonderfälle, die man sowohl im philosophischen Umfeld des altertümlichen Eudämonismus und Hedonismus, als auch des neuzeitlichen Pragmatismus und Utilitarismus aller Schattierungen antrifft. Zu diesem Mythos verhält sich die Wirklichkeit der Krankheit als experimentelle Metaphysik, als metaphysisches Experiment.

Die Wirkungsgeschichte des Ödipus hat mit der Pest von Theben begonnen. Ohne Krankheit keine Erfahrung. Wo vorher die Physik der isolierten Körper herrscht, die nichts (voneinander) wissen, wohlgestaltet und blühend ein Staatswesen mit König Ödipus samt Hofstaat, ist plötzlich ein einziges Wir, ein grenzüberschreitender Körper, der Subjekt einer Erfahrung wird, die aufs Ganze geht. Gegen alle ödipale Widernatur und, das lehrt der Mythos auch, gegen alle Kunst der Ärzte, der sich natürlich auch der Staatsmann sofort in altgewohnter Weise unterwirft, ist Ödipus, der Rätselfreund, zum wirkungsgeschichtlichen Experimentalfall eines allumfassenden Wir in Sachen Krankheit geworden, bevor ihn SOPHOKLES zur höheren Volksbelustigung ins Theater, FREUD ihn zu Heilzwecken in die Sprechstunde holte.

Huber, 1979
Veröffentlicht in SPK-Dokumentation Teil IV

PF/SPK(H), 21.05.2009