Dialektik der Sexualität

  1. Die Sexualität ist zunächst nur als Abstraktum bestimmbar. Nach der hier nur in Betracht kommenden allgemeinsten Charakteristik:

    1. Produktivität im Sinne expansiver Freisetzung von Energie, erlebt als Lustgewinn, über die unmittelbare Befriedigung eines biophysiologischen Spannungszustandes hinaus und

    2. Reproduktion als Fortpflanzung.

  2. Sexualität ist Angst. Rückzug und Kontraktion, das Verkriechen in sich selbst zurück, eine der Expansion analoge Bewegung, im Unterschied hierzu totale Richtungsumkehr.

  3. Beide Momente der Sexualität im Prozeß bilden die regressiven Erscheinungsformen Moral, Eigentumsfetischismus etc. auf der einen und die progressiven der Genitalität, nach Beseitigung der Hemmungen, psychedelische Sexualität und die Zielrichtung auf sozialrevolutionäre Umwälzungen.

  4. Sexualität als Selbststeuerung, Sexualökonomie.

Es ist davon auszugehen, daß der lebendige Organismus Spannungszustände produziert, zu deren Lösung er über sich selbst hinaus auf die Umwelt übergreifen muß. Die Vitalbedürfnisse, vor allem Hunger, Durst und die nur in einem bestimmten, relativ eng begrenzten Maß variablen Temperaturverhältnisse stellen Erlebnisse von Unlust dar, deren Befriedigung lediglich Beseitigung von Unlust in Form des Gefühls der Sättigung etwa mit sich bringt, nicht jedoch einen Zuwachs an Lust. Nur die genitale Bedürfnisbefriedigung produziert günstigenfalls über die Beseitigung von Unlust hinaus Erlebnisqualitäten, die als Lustgewinn bezeichnet werden.

Es ist unmittelbar einsichtig, daß die soeben getroffenen Voraussetzungen einen von der Umwelt weitgehend abgelösten Funktionszusammenhang von Spannung und Befriedigung bzw. zusätzlichen Lustgewinn produzierenden Organismus hypostasieren. Diese Abstraktion zu vollziehen ist notwendig, weil anders eine nur durch sich selbst bestimmte Sexualität, eine durch nichts ihr Äußerliches beschränkte biologisch-physiologische Funktionseinheit gar nicht darzustellen ist.

Es handelt sich also um die verruchte schrankenlose Sexualität, das reine Sich-Ausleben des Sexualtriebes. Wer diesem Phänomen mit Vorbehalten gegenübersteht, ist daran zu erinnern, daß wir derartiges nur als Abstraktion einzuführen in der Lage sind. Bedingt durch die äußeren Schranken der letztlich durch ökonomische Faktoren gesteuerten Sozialisierungsprozesse ist davon auszugehen, daß es diese Form der Sexualität, d.h. Sexualität als solche nur bei tierischen Organismen, günstigste Milieuverhältnisse vorausgesetzt, gibt.

Wäre sie andererseits in der menschlichen Sphäre konkrete Wirklichkeit, d.h. als die einzig vorhandene Möglichkeit, größtmögliche Lebensenergie freizusetzen, in allen Lebensbezügen wirksam, so wäre wiederum nichts zu befürchten. Die genitale Triebbefriedigung, aller äußeren Beschränkung entledigt, hat nämlich die ihr allein wesentliche Schranke in sich selbst. Sie ist der Selbststeuerung nicht nur fähig, sondern macht alle sonstigen Hemmungen moralischer und neurotischer Art als falsche und prinzipiell destruktive Ordnungsstrukturen kenntlich und überflüssig.

Bei der Sexualität handelt es sich gerade nicht um eine "Begierde …", die "in ihrer Befriedigung überhaupt zerstörend" ist, wobei die "Befriedigung nur im Einzelnen geschehen" kann, weil dieses aber vorübergehend ist, die Befriedigung wieder die Begierde erzeugt, die, weil sie ihr Ziel niemals absolut erreicht, immer der gefühlte Mangel der Subjektivität bleibt, eine nur angeregte Objektivierung darstellt und schließlich nur den Prozeß ins Unendliche herbeiführt (Hegel, Philosophie des Geistes, § 428, Suhrkamp Verl., Bd. 10).

Dieses Zerstören, diese prinzipiell scheiternde Objektivierung des Einzelnen, das vielmehr nur die Funktion hat, der ihm gegenüberstehenden formellen Subjektivität einverleibt zu werden, trifft auf alle Triebsphären zu, nur nicht auf die sexuelle. Nur der sexuellen Triebsphäre ist es vorbehalten, die eigene Subjektivität im Akt der Freisetzung von Lust zu objektivieren, ihr als nur formeller spezifischen Inhalt zu geben und das Ziel der Begierde aus seiner Bedeutung, nur Objekt der Begierde zu sein, in ein Subjekt überzuführen, das seinerseits sich als Lust seinen Inhalt gibt, sich objektiviert.

Hiermit sind abstrakte Sexualität und Selbststeuerung der Sexualität hinreichend skizziert. Die immanente Schranke der Sexualität liegt in der Möglichkeit ihrer Objektivierung als Lust. Nicht die Beseitigung von Unlust ist Ziel und Schranke der Sexualität, sondern die Erzeugung von Lust ist der Bezugspunkt, an dem zu messen ist, daß es sich überhaupt um eine sexuelle Beziehung handelt, und an dem zugleich klar wird, daß sie in der ihr wesentlichen Grenze ist, über die hinaus sie sich nicht mehr weiter objektivieren kann, durch die sie sich selbst steuert.

Hierin liegt beschlossen, daß die bislang geltenden Kriterien der Mono- und sonstigen -gamien, der Hetero- und Homosexualität, der Perversionen etc. keinerlei Kriterien dafür zu liefern imstande sind, ob es sich um Sexualverhältnisse handelt. In das Prinzip der Überproduktion an Lust gehen alle diese möglichen Bindungen ein, sofern sie sich als geeignet erweisen, vermittels der auf die Freisetzung von Lust angewiesenen Objektivierung Subjekt/Objektverhältnisse in Subjekt/Subjektverhältnisse zu verwandeln. Umgekehrt stellt für die nicht heterosexuellen Beziehungen, inklusive der sogenannten Perversionen die geschlechtsspezifische heterosexuelle Bindung in jedem Fall ein Manko dar, insofern als es ohne weiteres einsichtig ist, daß es zwar immerhin noch denkbar ist, daß ein heterosexueller Beziehung im Vollsinn fähiges Individuum auch zu Lustproduktion auf der Ebene der Perversionen in der Lage ist, vielfach sind ja Praktiken dieser Art in das Vorspiel einbezogen, es jedoch bei fixierter Homosexualität nicht möglich ist, die äußere Schranke dieser spezifischen Beziehung zu überwinden und einen gegengeschlechtlichen Partner in den Zustand der Objektivierung, d.h. in eine Subjekt-Subjektbeziehung überzuführen.

Hieraus wird weiter deutlich, daß es sich bei der allgemeinen Promiskuität in paradiesischen Urgesellschaften nur um eine in jeweils spezifischer Weise von wirtschaftlichen Notlagen her bestimmte Sexualisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen gehandelt haben kann, die mit Sexualität im eigentlichen, nämlich letztlich auf die Aufhebung der Entfremdung abgestellten Sinn, nichts zu tun haben kann.

Das freie Verhältnis der von Margret Mead beschriebenen Samoaner bei der Abwicklung ihrer Liebesspiele hat seine Entsprechung in einem nicht minder freien Umgang mit der Anwendung physischer Gewalt, und sei es auch nur in Form von Ächtung bei Übertretung von Stammestabus, wobei der Ausgestoßene mehr oder weniger zum Spielball von Naturgewalten, gesellschaftlicher Zufälligkeit und allgemeiner Lächerlichkeit wird.

Wir fühlen uns hierbei an manche Inkonsequenzen erinnert, wie sie im klassischen Anarchismus nachzulesen sind. In jedem Fall ist Sexualität von naturgebundenen, d.h. in der Wirtschaftssituation wurzelnden und daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Zwängen dirigiert und aufgebraucht.

Die Beseitigung dieser Zwänge und Gewalten ist derzeit gefahrlos nur hypothetisch zu leisten oder wie im vorliegenden Versuch, theoretisch, indem man Sexualität auf ihren Begriff bringt, d.h. sie zunächst abstrakt faßt, indem von allen Widerständen, in die sie verflochten ist und als welche sie allein in Erscheinung treten darf, abstrahiert wird. Auf der anderen Seite kann die durch den Wirtschaftsprozeß total gesteuerte Sexualität nur in die konkrete Phase der Selbststeuerung überführt werden, dadurch, daß der sie von außen steuernde, die menschliche Entfremdung konstituierende Wirtschaftsapparat in seiner derzeitigen Form und Ordnung völlig zerschlagen wird.

Die Sexualethik kann, gemessen an den heutigen Ordnungsstrukturen, sofern sie als Gesetze, Staatsformationen und Steuerungsmechanismen gesellschaftlicher Gewalt innerhalb des Sexualverhaltens figurieren, diese sich aus dem Anspruch auf Selbststeuerung ergebende Sexualität kann nur eine anarchistische sein.

Daß umgekehrt das Ziel der sexuellen Autonomie, die allein in der Lage ist, den Menschen aus seiner Entfremdung zu befreien, nicht nur auf dem Weg von Reformen, sexueller Aufklärung und Freigabe kontrazeptiver Mittel zu erreichen ist, hat W. Reich in "Die sexuelle Revolution" eingehend begründet.

Es ist dabei gar nicht einmal so wichtig, daß die nunmehr über fast hundert Jahre zurückreichende Aufklärungsarbeit im Grunde erfolglos war. Wichtiger ist es zu begreifen, warum unter den herrschenden Verhältnissen jedes gezielte Hinarbeiten auf Sexualökonomie an den äußeren Schranken, dem kapitalistischen Wirtschaftsprozeß selbst, scheitern muß.

Die ökonomisch-politische Struktur produziert in der jeweiligen Gesellschaftsordnung, durch die ihr zugehörigen Sozialisierungsmethoden, durch den Erziehungsprozeß in der bürgerlichen Kleinfamilie, durch die Unterdrückung der infantilen Sexualität, durch die Selektion der Wissensvermittlung und Informationsübertragung und durch die repressiven moralischen und ethischen Normen und Werte eine ihr angepaßte Charakterstruktur des Individuums.

Die Entfremdung des Menschen unserer Gesellschaft von seiner Umwelt ist keine metaphysische Gegebenheit, sondern ein analysierbarer Effekt der kapitalistischen Organisation der Produktionsverhältnisse.
Nur durch diese Verflechtung von Wirtschaftsprozeß und der ihm entsprechenden Charakterstruktur der Träger und zugleich Objekte dieses Wirtschaftsprozesses ist der Fortbestand des Systems gesichert.

Würden die Menschen von Kindheit auf in die Lage versetzt, ihre Bedürfnisse nach Selbstproduktion, d.h. ihr Bedürfnis nach Sexualität im weitesten Sinne zu erkennen, so würde die zwangsläufig hieraus resultierende Selbststeuerung sie gegen die systemimmanente Manipulation von außen immunisieren, und das System würde mangels Systemträger und zugleich in der Sphäre der Entfremdung ausbeutbarem Menschenmaterial zusammenbrechen.

Reformen des Sexuallebens können sich sonach mit Sicherheit nicht nur rühmen, in jeglichem Sinne von Progressivität politisch unverdächtig zu sein, sie genießen vielmehr den zweifelhaften Vorzug, mit Sexualität sicher nichts zu tun zu haben. Die Intention auf Sexualität im eigentlichen Sinne würde sie zwangsläufig mit den institutionalisierten Gewalten unseres ökonomisch-politischen Systems in Konflikt bringen und ihre Aktivität je nach Lage der lokalen Gewaltverhältnisse vernichten oder sie auf den Weg einer Revolutionierung der sozio-kulturellen Gesamtsituation verweisen.

Angst ist mehr als nur der Gegensatz von Sexualität. Im Extremfall ist sie mit Sexualität identisch, d.h. wir finden an Stelle von Sexualität Angst, sei es in Form von Phobien, sei es als sog. frei flottierende Angst, Weltangst, Todes- und Lebensangst oder existentielle Angst.

Es ist zu unterscheiden zwischen Realangst und neurotischer bzw. Infantilangst, wobei es sich in praxi prinzipiell um die letztere Form der Angst handelt. Zu unterscheiden ist insbesondere auch das auf Unlust basierende Ausdrucksverhalten von demjenigen der Angst. Kundgaben von Unlust werden besonders häufig im Rahmen der frühkindlichen Entwicklung mit Angst verwechselt. Zu beachten ist weiterhin, daß Schmerzsensationen und aus extremer Triebspannung resultierende Beunruhigung nur dann Angst auslösen, wenn die grundsätzlich erworbene Angstbereitschaft im Sinne von Infantil- und neurotischer Angst vorliegt.

Zufolge der Psychoanalyse entsteht Angst entweder durch die Behinderung der Bedürfnisbefriedigung und Motilität oder durch Flucht der Energiebesetzungen ins Innere des Organismus: Stauungsangst = Infantilangst bzw. neurotische oder Realangst.

In beiden Fällen handelt es sich um ein und dasselbe Grundphänomen: eine zentripetale Bewegung mit zentraler Stauung und Flucht der Energiebesetzungen ins Innere des Organismus. Es ist von hier aus ersichtlich, daß Sexualität eine zentrifugale Strebung in Richtung auf die Außenwelt darstellt im funktionalen Gegensatz zur Angst, die ebenso wie die Sexualität als eine Bewegung aufzufassen ist und als solche funktionell mit ihr identisch ist, wobei aber die Angst ein In-sich-Zurückverkriechen, Enge und Spannung beinhaltet. Unlust, Ärger, Angst und Pression stellen nach Reich lebensnegative Funktionen insofern dar, als sie prinzipiell unproduktive Prozesse im biologischen System sind, während sexuelle Lust der spezifisch produktive Prozeß ist und somit den Lebensprozeß schlechthin repräsentiert.

Reich weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, daß diese Feststellungen sich auf experimentell erwiesene Tatsachen gründen.

Die Unterdrückung der Sexualität in der frühkindlichen Entwicklung, ebenso wie die der Motilität, beide verursacht durch den Sozialisierungsprozeß, Wohnverhältnisse und die aus prinzipiell nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte vermeidbaren Pflege- und Erziehungspraktiken, wie sie durch Mangelsituationen der verschiedensten Art induziert sind, diese an der Sexualität in der frühen Kindheit bereits angreifende Repression verursacht die Entstehung von Angstbereitschaft.

Ist Angst erst einmal im Individuum verankert, so ist zugleich die wirksamste Grundlage für die Blockierung von Sexualität und deren Transformation in Sekundärtriebe wie Aggression, Sadismus, Schuldgefühle, Reue, für die Befriedigung fordernden Hemmungen und Vermeidungsreaktionen und die Ausbildung der Moral gelegt.

Entwicklungsphysiologisch wird dieser Übergang etwa folgendermaßen umschrieben: Die noch undifferenzierte Libido des Säuglings und Kleinkindes, von sexueller Libido nicht zu unterscheiden, erstreckt sich durch die Herausbildung der ersten Objektbeziehungen auf die Pflegepersonen, insbesondere die Mutter. Deren Zuwendung, ebenso wie die von ihr ausgehenden Versagungen werden gleichermaßen durch das Kleinkind libidinös besetzt. Durch die libidinöse Besetzung der zunächst Unlust bereitenden Verbote, insbesondere bezüglich der frühkindlichen Sexualität, geschieht zweierlei: Einmal werden diese Verbote sexualisiert, denn die libidinöse Besetzung beinhaltet Sexualität. Zum andern wird die Unlust bereitende Ursprungsperson dieser Verbote, in der Regel die Mutter, als solche verdrängt, wobei die Verbote als spätere Moral verinnerlicht werden, damit die Mutter Liebesobjekt bleiben kann.

Durch diese Aufspaltung der Libido, d.h. der Sexualität kommt unter der Hand im Prozeß ihrer Entstehung eine Sexualisierung der Moral zustande. Von hier aus ist verständlich, warum späterhin moralische Strebungen, Intoleranz gegenüber sexuellem Verhalten allgemein, geradezu wollüstige Züge aufweisen kann.

Die Beziehung zwischen Religion und Sexualität ist dieser Dialektik zwischen Libido und Moral analog. Durch die Verdrängung der initiale Unlust auslösende Verbote spendenden Personen werden diese durch Idealgestalten, wie sie insbesondere in unserer religiösen Tradition durch die Heilige Familie repräsentiert werden, ersetzt.

Sowohl die Angst als auch die Liebe, die das spätere Verhältnis zu diesen Idealgestalten bestimmt, sind sexuellen Ursprungs insofern, als sie aus dem angsterzeugenden Rückstau der Sexualität entspringen und deren Umformung zur Besetzung der Idealgestalten und religiösen Inhalte als Folge der Verdrängung von Unlusterlebnissen mit den versagenden Kontaktpersonen.

Moral und Religion entspringen aus der Angst und haben die unterdrückte Sexualität als religiöses Gefühl und Wertschätzung des Moralischen zur gefühlsmäßigen Basis.

Im Verlauf von Psychotherapien kann beobachtet werden, wie Moral und Religiosität zugrunde gehen im gleichen Maß als sich Ansätze zu einer sexuellen Selbststeuerung herausbilden, also die Fähigkeit zu genitalem Lusterleben zunimmt. Moral und Religiosität haben mit der Angst die Unproduktivität gemeinsam und sind somit lebensnegative Affektinhalte, zugleich aber ist durch sie die Angst um eine weitere Stufe verdrängt, d.h. nur scheinbar aufgehoben. Sie stehen zur Angst im Verhältnis der bestimmten Negation. Darüberhinaus aber stellen sie hinsichtlich der gefühlsmäßigen Basis, die sie für Moral und Religion bilden, ein der Sexualität durchaus vergleichbares Maß an Triebspannung bereit, ohne jedoch jemals ihr Ziel in Form spannungslösender Lustproduktion, wie es der Genitalität zukommt, erreichen zu können.

Als sexuelle Derivate, als die man sie unter triebpsychologischem Aspekt darstellen kann, als Sekundärtriebe, können sie nur ständig neue Spannung erzeugen, die letztlich nur in Form neurotischer Symptombildung gebunden werden kann.

Wo es sich bei der Sexualität um Lustproduktion handelt, zeigen die Moral und die Religion begründenden Sekundärtriebe jene schlechte Unendlichkeit der Reproduktion und ziellosen Expansion, die im übrigen jedes bestehende Mißverhältnis zwischen Fähigkeit zur Befriedigung und steigender Bedürfnisspannung kennzeichnet.

Als Aufhebung der Angst sind Moral und Religiosität Negation, als Pseudosexualität, mit der sie die Produktivität, wenn auch nur in Form des unendlichen Progresses gemeinsam haben, Negation der Negation.

In der durch psychedelische Drogen, insbesondere LSD, aktivierten genitalen Potenz sehen wir die formelle Negation der durch Angst gesteuerten Hemmungen. Die hierbei freigesetzte und aktivierte Sexualität kann jedoch nicht weniger formell sein, als ihr in der Eigenschaft dieses Negats zukommt. Ihr spezieller Mangel liegt in dem fehlenden Realitätsbezug beschlossen, der sich einmal auf personeller Ebene durch die Auflösung sämtlicher gewohnter Wahrnehmungsstrukturen und Denkvorgänge, auf der Ebene der Realität als eine weitgehend veränderte Wirklichkeit darstellt.

Auch wenn es richtig ist, daß wir unter der Einwirkung dieser bewußtseinserweiternden Substanzen die Wirklichkeit nicht als das Trugbild wahrnehmen, wie es uns normalerweise in Form unseres durch die Individualgeschichte vorgeschädigten Nervensystems als Trugbild vermittelt wird, sondern in diesen Ausnahmezuständen der Welt um einige Realitätsgrade adäquater begegnen, so ist es gerade die hiermit ausgelöste Veränderung des Realitätsbezuges, die es unmöglich macht, die Wirklichkeit zu verändern.

Diese formelle Sexualität ist zwar genitale Lustproduktion, kann jedoch zu einer Selbstobjektivierung und damit zur Aufhebung der Entfremdung deshalb nichts beitragen, weil ein Selbst, diese dialektische Einheit zwischen Subjekt und gesellschaftlichem Sein, eben gerade nicht impliziert ist.

Die Herstellung der genitalen Selbststeuerung auf der Ebene der Allgemeinheit als die Erzielung einer neuen Qualität auf der Basis des totalen Bruchs mit den herrschenden Formen von Scheinsexualität, wie sie zuletzt zur Sprache kamen, muß Hand in Hand gehen mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

Die Herstellung optimaler und störungsfreier Milieubedingungen für alle, wie sie schon heute nach dem Stand der Produktivkräfte Wirklichkeit sein könnte, ist die unabdingbare Voraussetzung für die Erzeugung des genitalen Primats, die Selbstvergegenständlichung des Menschen und die Aufhebung der Entfremdung.

 

Historische Entwicklung der Sexualität

In ihrer jeweiligen historischen Erscheinungsform ist Sexualität stets nur als Funktion sozio-ökonomischer und kultureller Bedingungen konkret bestimmbar.

Die Erfordernisse, die sich aus dem Angewiesensein des Menschen auf die Reproduktion seiner Lebensbedingungen, die er einstmals ständig neu den ihn bedrohenden Naturgewalten abringen mußte und deren Erfüllung er heute mit dem Integrationszwang in die jeweils herrschende Gesellschaftsordnung bezahlt, diese Erfordernisse stellen sich der Sexualität nicht nur entgegen; vielmehr muß davon ausgegangen werden, daß eine Trennung zwischen Sexualität und dem Funktionsganzen der stets neu zu reproduzierenden wirtschaftlichen und kulturellen Lebensbedingungen gar nicht möglich ist.

Dies kann umgekehrt nur bedeuten: daß Sexualität für unser Verständnis nur als Modalität, als ein bestimmtes Wie unserer materiellen Lebensbedingungen selbst aufgefaßt werden kann. Wer von Sexualität redet, wer Sexualität meint, kann sich nur dann verständlich machen, wenn er zumindest weiß, daß er sich unweigerlich im Kategorialsystem von Wirtschaft und Verwaltung bewegt.

Was er sonst noch meinen könnte, man denke an eigene affektive Erfahrungsinhalte sexueller Art, kann er, da es sich um bewußt gewordene Gefühle handelt, zwar in der Weise abstrakter Allgemeinheit mitteilen, wodurch er aber weder spezifische Gefühle zu erfassen in der Lage ist, noch imstande sein wird, von Anderen Aufschluß auch nur beispielsweise darüber zu erhalten, ob von ihm für sexuell gehaltene Erfahrung nicht in Wirklichkeit nur die gefühlten Rückstände von Funktionsbezügen sind, die mit Sexualität nichts oder jedenfalls nur sehr wenig zu tun haben, wenn man das Ganze bei Licht besieht.

Jedenfalls demonstrieren die Extremfälle Nymphomanie und Satyriasis, daß etwas, das erscheinungsbildlich als exzessive sexuelle Aktivität imponiert, in Wirklichkeit nichts anderes als Sexualabwehr in höchster Potenz ist, wobei nämlich das Praktizieren von Sexualität das einzige Mittel zu sein scheint, um die hier zugrunde liegende Lust-Angst (Reich) zu inaktivieren.

Wäre es möglich, etwa im Rahmen eines psychotherapeutischen Experiments, das hier vorliegende Sexualverhalten von den wirtschaftlichen und kulturellen Bestandteilen freizupräparieren, so bliebe nicht etwa Sexualität zurück, sondern schlechterdings nur die dieses Sexualverhalten konstituierende Angst.

Beim Versuch, Urformen der Sexualität zu rekonstruieren, ist man auf Lebensgemeinschaften verwiesen, die von denjenigen unseres Kulturkreises vielfach so sehr abweichen, daß es leicht und im übrigen literarisch ergiebig ist, sie entweder zu einem verlorenen Paradies sexueller Freizügigkeit hochzustilisieren oder darin, wenn man etwa an den vor nicht allzu langer Zeit im Kongo noch üblichen Tauschhandel mit Frauen denkt, nur die extrem mögliche Reduktion von Sexualität in Richtung auf Primitivität hin zu sehen.

Die durch keinerlei Schranken behinderte, inzestfreie und offenbar auch Altersunterschiede der Partner nicht berücksichtigende allgemeine Promiskuität in der sog. Urhorde ist als Funktion der Konstanthaltung optimaler Lebensbedingungen für diese Gemeinschaft keineswegs befreite Sexualität, sondern vielmehr Resultat des durch die äußere Bedrohung aufgezwungenen Ansporns zu größtmöglichem interindividuellem Kontakt und der Abgrenzung gegenüber anderen Urhorden und deren Übergriff auf die materiellen Voraussetzungen der zu sichernden Lebensbedingungen.

Reich hat dargestellt ("Einbruch der Sexualmoral"), wie die Sexualität am Übergang von urkommunistischen in patriarchalische Gesellschaftsformen sprunghaft verändert wird. Dem Streben nach Erhaltung und Befestigung von Besitzverhältnissen, wobei die Verwandten der "Ehe"Frau über ihren eigenen Bedarf hinaus verpflichtet sind, durch Mehrarbeit den Besitz des "Ehe"Mannes zu vergrößern, entspricht die Unterdrückung des genitalen Primats zugunsten vorwiegend oraler und analer Lustbefriedigung. Dies manifestiert sich u.a. auch in einer Veränderung der Lebensgewohnheiten, z.B. in dem Zwang einer gemeinsamen Einnahme der Mahlzeiten.

Durch Koalitionszwänge dieser Art wird die Autonomie und Spontaneität des Individuums immer mehr in den Hintergrund gedrängt, zentralistische Tendenzen innerhalb der Sippe des Häuptlings treten als Verhältnisse fixierter Rollenverteilung, Unterwerfung des Einzelnen unter die etablierten Befehlsautomatismen der Sippe hervor und in Form einer Abgrenzung, vielfach gesteigert bis zur offenen Feindseligkeit dieser weitgehend entsexualisierten Familienverbände gegeneinander.

Die vorher nicht vorhandene Durchmischung des Verhaltens der Einzelnen mit sado-masochistischen Verhaltenszügen, neurotischer Ängstlichkeit, führungsspezifischen Identifikationsprozessen und Perseverationstendenzen werden von Reich als Sexualisierung nicht-genitaler Triebregungen begriffen, die ihrerseits umgekehrt bewirken, daß schon in der frühkindlichen Entwicklung die Erreichung genitaler Reize behindert wird zugunsten der auf orale Aufbrauchstendenzen und anale Perseveration gerichteten Verhaltensweisen. Das Sexualverhalten ist unter diesen Umständen als eigenständige Komponente zwischenmenschlichen Verhaltens überhaupt nicht mehr in Betracht zu ziehen, vielmehr stellt es nur eine Art Kitt oder Zement für ökonomische Austauschverhältnisse zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch dar.

Das Sexualverhalten unterliegt ganz und gar der Steuerung durch wirtschaftliche Erfordernisse. Wo die Partner glauben, ihre Wahl im Sinne des Eingehens einer sexuellen Dauerbindung nach freiem Ermessen und aufgrund primärer und sekundärer geschlechtsspezifischer Attraktionen getroffen zu haben, ist bei objektiver Betrachtung davon auszugehen, daß diese Wahl vorherbestimmt ist durch Erziehung und Milieu, relative Gewohnheitsbildung, die ihren Ursprung letztlich in ökonomischen Interessensrichtungen haben.

Selbst die Bevorzugung nach Kriterien einer wie auch immer geprägten sexuellen Bedürfnislage und erscheinungsbildlicher Attraktivkraft unterliegt gesellschaftlich vermittelten und in der jeweiligen Wirtschaftsstruktur begründeten Steuerungsmechanismen insofern, als die geschlechtsspezifischen Eigenschaften einschließlich der biologischen Konstitution bis hin zu der individuellen Wahrnehmungsstruktur durch die Sexualisierung der Partialtriebe bedingt sind, deren Aktivierung Resultat der Konkurrenz zwischen ökonomischen und zurückgedrängten genitalen Strebungen ist.

Historisch betrachtet ist somit die sogenannte schrankenlose Promiskuität in den Urgesellschaften gleich Urhorden ebensosehr nur als Widerspiegelung der materiellen Lebensbedingungen zu begreifen, wie die Gesellschaftsbildungen in den Punualiagruppen mit dem Zusammenschluß mehrerer gleich- oder gegengeschlechtlicher Partner, den Anfängen der Inzesttabus bei den Gentes, der Kreuz-Vetter-Basen-Heirat bei den Trobriandern, bis hin zu den komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen der Australneger, deren Vergesellschaftungsformen vor allem durch den Strukturalismus viel Beachtung gefunden haben und deren Komplexität Lévi-Strauss veranlaßt hat anzunehmen, daß sie nur oder allein schon deshalb nicht in der Lage waren, kulturschaffend in die Geschichte einzugehen, weil sie permanent nur mit dem ritualisierten Austausch und der Aufrechterhaltung ihrer komplizierten Heiratsstrukturen beschäftigt sind.

1970

Huber PF/SPK(H) WD, Dr.med.

Aus: SPK-Dokumentation Teil 3, 1. Auflage 1977

PF/SPK(H), 30.09.2014