Überall, wo Menschen zusammenleben, muss
sich die Gemeinschaft mit Störungen auseinandersetzen und in der Lage sein, mit
der Kranheit zu leben. In dem Maße, wie einer Gemeinschaft dies gelingt oder
nicht, hat jeder einen Prüfstein dafür, was die jeweilige Gemeinschaft taugt.
DRAUSSEN ≠ DRINNEN !
Aber es ist nicht oben wie unten
SCHAFFEN WIR WENIGSTENS MEHR
aus: KrankheitsRat
17.2.1984
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
vielen Dank für Ihren Brief vom
18.1.1984.
Bevor ich die in Ihrem Brief aufgeworfenen Fragen im Einzelnen beantworte,
möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zu dem von Ihnen angeschnittenen
Problem vorausschicken.
Es gibt Krankheit. Und die Ärzte werden mit Krankheit nicht fertig. Deshalb wird seit Urzeiten Klage gegen die Ärzte geführt und ihre Existenzberechtigung zu Recht angezweifelt. Von daher ist es verständlich, dass den Ärzten jedes Mittel recht sein muss, das ihnen den Schein einer Existenzberechtigung und den Schein der Überlegenheit liefert. Gerade die Psychiater haben es in dieser Beziehung besonders nötig, denn sie gibt es ja bekanntlich erst seit kaum 200 Jahren. Ihre Existenzberechtigung ist also schon von daher fragwürdig, denn demnach ist nach Adam Riese die Kultur-Menschheit, die seit mehr als 60.000 Jahren existiert, abzüglich eines winzigen Bruchteils an Zeit, ohne diese Sorte Ärzte ausgekommen, ohne dass die Menschheit oder ein Einzelner Schaden genommen oder gar untergegangen wäre. Auch gibt es Psychiater und Psychiatrie keineswegs überall auf der Welt, aber fest steht, dass überall, wo Menschen zusammenleben, sich die Gemeinschaft mit Störungen auseinandersetzen muss und in der Lage sein muss, mit der Krankheit zu leben. In dem Maße, wie einer Gemeinschaft dies gelingt oder nicht, hat jeder einen Prüfstein dafür, was die jeweilige Gesellschaft taugt (in ähnlicher Weise soll das für hiesige Verhältnisse auch mal von einem deutschen Bundespräsidenten erörtert worden sei, ich glaube, es war Heinemann, aber das ist ja auch egal, und jedenfalls schon wieder eine Weile her).
Zum Beispiel haben in Deutschland die "Deppen" noch bis vor gar nicht allzu langer Zeit mit den Anderen zusammen in den Dorfgemeinschaften gelebt. Sie hatten dort ihren Platz und die Dorfbewohner haben dafür gesorgt, dass weder die Gemeinschaft noch der Patient Schaden nimmt. Und das hat – wie gesagt – funktioniert, ganz ohne Arzt, Psychiater und Polizei, solange bis die Ärzte im 3. Reich eine andere Auffassung von Krankheit durchgesetzt haben.
Selbstverständlich ist mir klar, dass es ein Zurück zu den Dorfgemeinschaften heute nicht mehr geben kann. Aber genauso wenig ist die von Psychiatern angestrebte Richtung: die ganze Gesellschaft in eine HEILanstalt zu verwandeln und Verantwortung abzuwälzen, eine Lösung. Wo kämen wir denn hin, wenn Wiesloch überall wäre? Das wäre mit Sicherheit noch schlimmer als im 3. Reich.
Worauf es ankommt ist, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder, der als Mensch darin geboren ist, auch als solcher anerkannt wird. Ich weiß, dass Sie mich nach Einzelnem und Praktischem gefragt haben. Aber ohne dass man sich immer wieder ein Bild vom Ganzen macht, wird auch das Praktische bloß Pfusch, abgesehen davon, dass man sehr schnell den Schwung und den Mut verliert.
Sie fragen mich speziell nach meiner Meinung als Rechtsanwalt. Zum Glück ist das Recht seit Roms Republik öffentlich und somit jedermanns Sache und nicht nur die von Advokaten und Rechtsanwälten. Unser Landsmann G. F. W. Hegel hat es in seiner "Rechtsphilosophie" sinngemäß mal so gesagt: "So wenig, wie einer den Schuster braucht, um zu wissen, ob ihm die Schuhe passen, so wenig braucht er den Rechtsanwalt um zu spüren, ob ihm Gerechtigkeit widerfahren ist." Und Krankheit ist ja naturgemäß nicht Sache des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft bzw. Gesellschaft. Herrn W. beizustehen und ihm zu helfen, ist geradeso jedermanns Sache, wie es jedermanns Sache ist, einem Ertrinkenden zu helfen. Die Hilfeleistungspflicht von mir als Rechtsanwalt sowie von jedem anderen, Herrn W. gegenüber, ergibt sich aus der Tatsache, dass Herr W. ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hat. Dieses Recht wird von den Ärzten der HEILanstalt Wiesloch gebrochen und mit Füßen getreten, denn die Ärzte der HEILanstalt Wiesloch unterwerfen Herrn W. einer Zwangsbehandlung mit Stoffwechselgiften. Durch die Zwangsbehandlung mit Stoffwechselgiften befindet sich Herr W. in ständiger Lebensgefahr. Da bin ich als Rechtsanwalt wie jeder andere verpflichtet, Herrn W. zu Hilfe zu eilen. Wie jedermann verpflichtet ist, einem in Not Geratenen, z.B. einem Ertrinkenden zu helfen. Und selbst wenn derjenige, der am Wasserrand steht, weiß, dass ein Ertrinkender nicht bei klarem Bewusstsein ist und dadurch die Gefahr besteht, dass er seinen Retter mit unter Wasser zieht, d.h. ihn also in die Gefahr des Todes bringt, hat das zurückzustehen und ist die Hilfeleistung das Gebot der Stunde. Auch darf der Retter seine Entscheidung, ob er hilft oder nicht, nicht davon abhängig machen, wie z.B. das Land um das Wasser ist. Er hat sofort zu Hilfe zu eilen und sonst nichts. Anders war das z.B. bei den Eskimos. Die retteten früher niemanden aus dem eiskalten Wasser, weil sie sagten, das ist ein schöner Tod und der Gerettete würde – obwohl gerettet – trotzdem sterben. Eine Rettung sei nur eine unnötige Qual für den Betroffenen. Aber sogar die Eskimos sind heute von diesem Standpunkt abgerückt. Nun steht die Hilfeleistung auch dort an oberster Stelle. Und den früheren Standpunkt der Eskimos wird keiner, der etwas darauf hält, zivilisierter Mitteleuropäer zu sein, bemühen wollen. Dies umso weniger, als bekannt ist, dass im 3. Ärzte-Reich Parolen wie "Schöner Tod" (Eu-thanasie) die Begleitmusik für den Weg in die Gaskammern war.
Um nun auf die Fragen im Einzelnen zurückzukommen (sie sind uns schon oft in dieser oder ähnlicher Form von Ärzteseite zugetragen worden):
Ich möchte erst mal als selbstverständlich voraussetzen, und ich glaube, dass Sie darin mit mir übereinstimmen, dass in Ihrer Gemeinde Menschen wohnen, die vom Willen beseelt sind, Gutes zu tun und ihren Mitmenschen zu helfen. Von daher nehme ich an, dass in Ihrer Gemeinde zumindest zwei oder drei Hilfsbereite sind, die Herrn W. nach seiner Entlassung Arbeit oder Wohnung geben. Dazu müsste natürlich zuerst geklärt werden, was eigentlich Herr W. will und ob er damit einverstanden wäre, in B. zu wohnen und zu arbeiten. Warum wird denn immer gefragt, was die Behörden und Institutionen wollen und gar nicht danach, was der Patient will? Es gibt ja Länder, in denen alle Patienten aus den Heilanstalten entlassen wurden. Danach hat sich herausgestellt, dass die Patienten mit dem Außen begründetermaßen nicht zufrieden sein können. Die Patienten sind dann freiwillig wieder in die HEILanstalten zurückgekehrt. Sie leben nun dort gemeinsam zusammen und verlassen die HEILanstalten nur zu Ausflügen und zu notwendigen Besorgungen. Allerdings gibt es dort keine Ärzte, die ihnen mit Gewalt eine Behandlung aufzwingen (damit ist eben gerade nicht Italien gemeint – ).
Es müsste also erst mal klar sein, wo Herr W. hin will, was er für Möglichkeiten sieht bei einer Entlassung. Es gibt ja die Möglichkeit, dass sich Herr W. verpflichtet, wieder in die HEILanstalt zurückzugehen, wenn er merkt, dass er draußen nicht zurechtkommt. Da er dann aber freiwillig drin ist, müsste gewährleistet sein, dass die Ärzte ihn nicht wieder mit Stoffwechselgiften zwangsbehandeln. Herr W. weiß, dass es am besten ist, in sein "Gewohntes" zurückzukehren, wenn er merkt, dass er draußen nicht zurechtkommt und er gleichzeitig weiß, dass ihm in der HEILanstalt nichts geschieht und er von dort aus die Möglichkeit hat, sich nach etwas Geeigneterem umzusehen und einen neuen Versuch zu machen.
Was die Angst vor der sogenannten Rückfälligkeit betrifft, so darf diese nie bestimmend sein. Es ist ja bekannt und wird immer wieder darauf hingewiesen, dass von in noch so üblen ärztlichen Verruf geratenen Patienten viel weniger Gefahren ausgehen als von der Mehrheit der Normalen. Dazu fällt mir gerade ein Beispiel ein, das in der Presse vor Jahren Schlagzeilen machte. Ein Arzt, der seinen Urlaub im Ausland verbrachte, hatte von dort die Pocken mitgebracht. Er wusste dies, nahm aber trotzdem seine Arbeit in der Klinik wieder auf (impfen hatte er sich auch nicht lassen). Das hatte verheerende Auswirkungen. Einige Patienten und Kollegen bezahlten die Leichtfertigkeit und Rücksichtslosigkeit des Arztes mit dem Tod. Besagter Arzt wurde ausnahmsweise mal verurteilt, hatte aber ansonsten nicht mehr Scherereien, als dass er seinen bisherigen Arbeitsplatz mit einem besseren an einer anderen Universitätsklinik vertauschte. Es war keine Rede davon, dass er, wie Herr W., einen großen Teil seines Lebens hinter Mauern hätte verbringen müssen. Und wer wollte einem Menschen, wenn er ausgerechnet und sogar noch Arzt ist, bei einer derart eingefleischt rücksichtslosen Charakterhaltung und angesichts seiner berufsgegebenen Macht über Menschen nicht mehr Rückfallgefahr unterstellen, als beispielsweise Herrn W.
Um nochmals auf meine eingangs gemachten Ausführungen zurückzukommen: Ich denke, derjenige macht es sich zu bequem, der die Verantwortung beim Einzelnen sucht, als dem sozial Schwächeren, um diesen dann – gemäß ärztlicher Sprachregelung – lebenslang "aus der Gemeinschaft auszuschließen". Wenn von Schuld die Rede ist, muss jeder zugegebenermaßen sagen, dass die Gemeinschaft nicht so war, dass sie verhindern konnte, dass einem ihrer Glieder ein solches Schicksal (30 Jahre HEILanstalt samt Vergiftungsbehandlung und allem anderen, worüber ich in früheren Briefen schon berichtet habe) zuteil wurde. Insofern hat die Gemeinschaft nicht in erster Linie einen Anspruch auf Wohlverhalten des Einzelnen, sondern hat auch Herr W. einen Anspruch an die Gemeinschaft, in die er, wie jeder andere hineingeboren wurde. Die Gemeinschaft sollte sich deshalb auch nicht auf die Sozialdienste verlassen, sondern der Bürger sollte aufgrund eigener Meinungsbildung und dem Willen, das Bestmögliche zu tun und aufgrund der Tatsache, dass er nicht alleine steht, selbst Verantwortung übernehmen und mit Krankheit umgehen lernen. Zumal ja bekannt ist, und das werden Sie auch wissen, dass auf den Ämtern der eine dem anderen die Verantwortung zuschiebt, worunter letztlich wieder mal der Betroffene und sozial Schwächere zu leiden hat.
Abschließend möchte ich bemerken, dass ich mir nicht anmaße, erschöpfend etwas geschrieben zu haben zum Für und Wider dieses Problems, das ja weit in Geschichte und Gesellschaft hineinreicht. Wie man weiß, sind die Bibliotheken voll von Büchern zu diesem Thema, von denen keiner der behandelnden Ärzte von Herrn W. jemals auch nur Notiz genommen hat; denn unter den Ärzten sind es allerdings nicht die besten in Wissenschaft und Forschung, die sich für eine HEILanstalt bewerben. Es ist sogar sprichwörtlich und ein offenes Geheimnis, dass viele der Wiesloch-Ärzte sich in sog. krimineller und sog. charakterlicher Hinsicht nur durch ihre Lizenz und eventuell noch durch ihren weißen Kittel von denjenigen unterscheiden, die ihnen zur Behandlung anvertraut sind.
Mit freundlichen Grüßen
30.04.2019