Die Nachfrage

Was über die neuen Äußerungen des Psychiaters Cooper berichtet wird – allein revolutionäre Aktion ist Therapie gegen Wahnsinn – nimmt so ziemlich alles, worüber sich einer Anfang ’72 beim Lesen von Coopers "Psychiatrie – Antipsychiatrie" und "Tod der Familie" ordentlich geärgert hat, wieder zurück.
Zum wesentlichen Rest war allerdings schon damals klar, daß Cooper, verglichen mit Laing und Basaglia immerhin wenigstens schon mal mit einigen fachgültigen Anstandsregeln gebrochen hat, daß er die metaphysischen Fallstricke des "gesunden Menschenverstands" in all seinen Spielarten gründlich satt hat und mit geradezu kollektiver Direktheit vorgeht. Stellenweise, auch wenn diese Stellen – Familie auf der einen, Dritte-Welt-Klassenkampf-Apologetik auf der andern Seite – bestimmt nicht diejenigen sind, von denen aus die herrschende Makropolitik, spürbar für jeden (und darauf kommt es an), infrage gestellt werden kann.

Makropolitik kann nur meinen: Imperialismus.
Cooper meint demnach mit Revolutionäre-Aktion-die-Therapie-gegen-den-Wahnsinn-ist Antiimperialismus, antiimperialistisch ist die revolutionäre Aktion, wenn sie den nationalen Befreiungskampf zur Form hat, besser ausgedrückt: sich in Form des nationalen Befreiungskampfes abspielt (s. z.B. Mao, "Praxis und Widerspruch").
Der Antiimperialismus ist also am Ziel, wenn die Nation von der Fremdherrschaft befreit ist. Das schließt natürlich nicht aus, daß diese Nation dann ihrerseits imperialistisch wird, (eine) andere in Bezug auf sie anti-imperialistisch usw. – eine Therapie gegen den Wahnsinn ist das nicht, der Satz kommt vom Gegensatz nicht los, die Makropolitik bleibt, was sie war: imperialistisch.

Als antiimperialistisch versteht sich zur Zeit u.a. auch insbesondere die faschistische AAA in Argentinien. Als antiimperialistisch und antifaschistisch verstand sich auch schon die sozialistische Linke der Weimarer Republik, dieselbe, die jene Gesetzesvorlagen zur Gewalteuthanasie eingebracht hat, die dann von den Nazi-Borms als Therapie "gegen den Wahnsinn" zehntausendfach ausexekutiert wurden (s. Marx.-lenin. Wörterbuch der Philosophie, Stichwort: Euthanasie).

Die Dänen allerdings, obgleich aus der Sicht des NS-Staats Herrenmenschen, identifizierten sich, trugen den Judenstern. Und das allein schon war zumindest antiimperialistisch und antifaschistisch genug, um nicht zu sagen wahnsinnig gefährlich und, zumindest für alle von den Faschisten für wahnsinnig gefährlich Erklärten, eine revolutionäre Aktion, die Therapie gegen den Wahnsinn war. Wären daraufhin alle Dänen an Ort und Stelle vergast worden, dann wäre die Deportation, Ausdruck der imperialistischen Makropolitik, annulliert gewesen.

So wurde kein, überhaupt kein "Wahnsinniger", weder Däne noch Nicht-Däne, deportiert. Die Makropolitik, die imperialistische, war damit sowieso durchkreuzt.
Die Therapie gegen den Wahnsinn läuft demnach nicht als bestimmte Negation, bestimmt durch Inhalte wie Imperialismus, Faschismus, Wahnsinn, Sozialismus, sondern als absolute, radikale Negation (Negation der Negation), in der die Massenlinie Krankheit Hauptlinie der Revolution in jeder Phase ist und die revolutionäre Wendung des Wahnsinns immer Aufgabe bleibt, solange es ihn gibt.

Wahnsinn bedeutet in der Psychiatrie (soweit sie sich darüber Rechenschaft gibt) Umdeutung und Umphysiognomisierung aller Erfahrungsinhalte unter dem Eindruck einer spezifischen Situation wie Verfolgung, Ver(ein)z(wei)lung (als Größen-, Eifersuchtswahn, als Vergiftungs-, Mikrobenwahn etc.). Als charakteristisch gilt, daß dabei alles mit allem zusammenhängt, System hat, an dem Spezifischen festgehalten wird, und immer der "Sinn" des Ganzen. –

Wer als Prinzip Profitrate verstanden hat und anerkennt, lebt in einem gleichartig harmonisierten System und setzt sich über jede Art Widerspruch, Unstimmigkeit usw. hinweg, sofern sie nicht das Spezifikum seiner Situation (eben Profitrate und deren Reflexe) tangiert.
Beide Widerspruchsformen sind also identische Gegensätze, wobei das, womit es die Psychiatrie zu tun hat, Hauptseite ist, wenn der Widerspruch revolutionär zu wenden ist.

Jede bestimmte Negation – kenntlich aus der Vorsilbe anti – ist statt Therapie-gegen gut-für Wahnsinnsreproduktion, weil sie das, wogegen sie sich abgrenzt, vor sich herschiebt, ihm immer ähnlicher wird und schon allein deshalb als "revolutionäre Aktion" zur Makropolitik außer Verhältnis steht. Während beispielsweise (der revolutionäre Kranke als Kategorie) die Kategorie revolutionärer Kranker Fortsetzung der als ärztlich verkappten kapitalistischen Gewalt ist und zugleich an dem Punkt ansetzt, der stärkster und schwächster des ganzen Systems in seiner derzeitigen und hier gültigen Konzeption ist (Iatrokratie als schlechte Mitte im Zentrum des Hauptwiderspruchs Kapital und Krankheit), stößt die sich gegenüber dem Wahnsinn ausdrücklich abgrenzende Kategorie "Anti-imperialistische revolutionäre Aktion" auf periphere, vorgeschobene Posten der Makropolitik, die sie ändern will, um schließlich vom Wahnsinn in Gestalt der Gewalt als ärztlicher dann doch herausgefordert zu werden.

Wenn Ort und Zeitpunkt dieser Herausforderung zum feindlichen Terrain gehören, dann wird auch die Auswirkung von der Feindseite her kontrolliert und bestimmt bleiben, d.h. es wird dafür gesorgt sein, daß der makropolitische Gang der Geschäfte ungestört weiterläuft und die ärztliche Gewalt, sollte sie irgend Schaden genommen haben, eine Etappe zurückgenommen wird.

Eine negative Definition für Makropolitik findet sich bei Lamberg: Guerilla in Lateinamerika. Demnach seien revolutionäre Aktionen dieses Typs solche, die an der Makropolitik nichts ändern, weil ihnen die homolog strukturierten Puffersysteme Polizei und Militär gegenüberstünden, in denen sie sich mit empirischer Zwangsläufigkeit neutralisieren.

Es macht natürlich keinen Unterschied, daß Cooper bei der Verwendung des Ausdrucks Makropolitik sicher damit nicht mehr meinte, als eben nicht nur "Gesundheitspolitik", "Reformen", "Rechts- und Wirtschafts-" und all dergleichen (Mikro)politik. Seine Ausführungen drehen sich um "revolutionäre Aktion, die Therapie ist". Er muß also etwas meinen, was im Umkreis der Negativdefinition von Makropolitik liegt und revolutionäre Aktion, die sich prinzipiell nicht in kriminalistisch-militärischen Inhalten erschöpft, anders strukturiert ist und funktional ihre Ziel- besser: Schwerpunkte jedenfalls nicht in diesen Außenbezirken makropolitischer Gewaltformen haben kann.

Ein solcher Schwerpunkt, zugleich Schnittpunkt von Makropolitik und revolutionärer Aktion wäre dann ja wohl das, was man Iatrokratie im Weltmaßstab nennen könnte (Iatros, griechisch: Arzt), dabei zu denken an Hirnimperialismus in all seinen Erscheinungsformen, an die Tatsache, daß allein die ärztliche Gewalt für sich in Anspruch nehmen kann, daß ihr das Substrat Patient in totaler Abhängigkeit widerstandslos mit Haut, Haaren, Gedanken und sonstigen Innereien ausgeliefert ist, ohne die geringste Aussicht, diese Gewalt technisch oder auch nur erkennend je dingfest machen zu können ("es gibt kein Recht für Patienten..."), dabei zu denken auch an die Tatsache, daß es dem Arzt, mehr als dem Polizisten, dem Priester, dem Richter erlaubt (ist) Gewalt auszuüben, die durch den Körper des Kranken hindurchgeht (Gaglio, "Medizin und Profit").

Daß "Depression, Infektion, Arbeitsunfähigkeit und Dysfunktion, von der Medizin hervorgerufen, heute mehr Leiden verursacht als alle Verkehrs- und Arbeitsunfälle zusammengenommen, einzig der Schaden, den die industrielle Lebensmittelproduktion anrichtet, kann sich mit dem von den Ärzten angerichteten Unheil messen" (I. Illich, N. Forum, S. 251), wobei Rate und Abhängigkeit der medizinisch erzeugten "kybernetischen Patienten" ständig wachse.

Nur auf diesem Hintergrund als einer massenspezifischen Wirklichkeit kann revolutionäre Aktion bis in die Makropolitik hineinwirken. Hat sie anderes als diese Zusammenhänge zum Inhalt, zielt sie auf anderes als auf diese Basen des Wahnsinns kapitalistischer Kultur, dann wird sie von kriminalistischen und militaristischen Reformprojekten geschluckt, verdaut und steril ausgeschieden.
"Zum Glück" sind diese Einrichtungen selbst hochpathogen, weshalb die ausgeschiedenen Produkte den Schein der Sterilität bündig widerlegen.

Die Probe aufs Gegenteil hat schon der subjektiv revolutionäre, objektiv reaktionäre (W. Reich) Nazifaschismus geliefert. Er begründete seinen Anti/imperialismus – wie bekannt sehr massenwirksam – mit der Weltseuche Judentum und Kampf-gegen-"erbkranken-Nachwuchs", alles unter dem Deckmantel Klassenhygiene (vgl. "Mein Kampf", "Stürmer"). Und dieser Mythos genügte, Betroffene wie Außenstehende in reaktionäre Kranke zu verwandeln, sie für die Makropolitik zu funktionalisieren. (Berichten Überlebender zufolge, waren sogar manche der Betroffenen im "Bewußtsein" existentieller Schuld "vernünftig" genug, mit allen Maßnahmen ihrer Henker in Weiß einverstanden zu sein.)

Diese "Vernunft" hat die Psychiatrie dann hinterher, soweit es ein Hinterher gab, als (verfolgungsbedingten) "reaktiven Persönlichkeitswandel" rubriziert.
Inzwischen ist der Mythos Klassenhygiene durch eine handfeste "Gesundheits"maschinerie ersetzt, die als Staat, als Kapitalisierender, mit Hilfe von "Massenaufklärung", "Früherkennung", "Vorsorge" usw. enormen Terror verbreitet, teils durch statistisch pseudofundierte Krankheitsverwertung, teils durch massenhafte Demonstration ihrer Fähigkeit, tatsächlich entdeckte Leiden zu verlängern, um sie maximal auszubeuten, auf jeden Fall aber um jeden – und das beginnt schon bei der befruchteten Eizelle – als Patienten an sich zu binden, die Mehrheit zum (Wegwerf)sklaven einer Gesundheit zu stempeln, die gar nicht drin ist (zu Gesundheitswahnsinnigen / wahnsinnig Gesunden).

Noch größer ist – natürlicherweise – der Terror, wenn diese Maschine gefährdet ist und der Einbruch gesellschaftlich potenzierter Naturgewalt durch keine Hoffnung auf "ärztliche Hilfe" mehr gebremst wird (Berichte zum Verhalten imperialistischer Kampfverbände aus der Sicht eines Psychiaters auf dem vietnamesischen Kriegsschauplatz, sonstige Erfahrungen, gar nicht so weit hergeholt).

An diesem Beispiel kann sowohl der Zusammenhang von Makropolitik und Wahnsinn als auch das verdeutlicht werden, was revolutionäre Aktion als Therapie gegen den Wahnsinn ist. Wo und wie immer die Iatrokratie zusammenbricht, steht Leben gegen Makropolitik und zwar dasselbe Abfall- und Wegwerfprodukt Leben als Widerstand, das sonst widerstandsloser Angriffspunkt der als ärztlich verkappten Gewalt ist. Im Gesundheitswahn dressiert, verhalten sich Kampfverbände ohne Sanitäter und Arzt wie Morphinisten unter akuten Entziehungserscheinungen gegenüber Vorgesetzten und Kommandos.

Krankheit und Kapital sind durch die Ware verklammert. Makropolitik und Wahnsinn durch die Iatrokratie.
Die revolutionäre Aktion, Therapie gegen den Wahnsinn, schafft revolutionäre Kranke, neutralisiert die tödliche Iatrokratie und entzieht dadurch dem Wahnsinn die objektive, der Makropolitik die subjektive Basis.

Von dem Selbstvorwurf, früher den Wahnsinn romantisiert zu haben, kann Cooper übrigens getrost freigesprochen werden: die Renaissance hat das Kaufmannskapital, dessen Reflex sie ist, nicht verschönert, keine Antipsychiatrie kann die Kolonialseuche, deren Reflex der Wahnsinn ist, verklären.

 

1974, 752, Z35
 

Huber PF/SPK(H) WD, Dr.med.

 

Aus SPK-Dokumentation Teil 3, 1. Auflage 1977

 

Die Vorwarnung

PF/SPK(H), 01.03.2014