Zahlen und Überzählige
Vorspann zur spanischen Fassung von Zahlen und Überzählige
Der folgende Text entzieht aller Wissenschaft samt Technologie jede Grundlage und Gültigkeit auf Nimmerwiedersehen. Er eröffnet dem auf Krankheit gegründeten und dadurch beliebig steigerbaren Bewußtsein erstmals den Blick auf eine nie gesehene, allen gemeinsame Welt, den Blick auf die noch nie so gesehene Möglichkeit einer allen gemeinsamen Welt. Es handelt sich nicht nur um die Achse, den ruhenden Pol und Rechtfertigungsgrund, um die sich alle unsere Veröffentlichungen drehen, sondern alle künftigen, einschließlich revolutionären Veränderungen haben darin den unverrückbaren Maßstab ihrer Zielsetzung.
Dies sollte wissen, wer das liest. Wir selbst haben es aufgeschrieben, damit wir es nicht vergessen.
Anmerkung der Übersetzer
Reid Aldeapzoli Loev, Mag.
phil., und
P. Hogernig, Diplom-Soziologe
und Chemiker,
PF/SPK MFE Spanien
"Wer das Gesundheitswesen beherrscht, beherrscht
die Bevölkerung." Wer also herrscht Lenin zufolge? Die Ärzteschaft.
Die Ärzteschaft ist es, von der alle
politische Macht ausgeht. Wer dieses Lenin-Zitat bringt, der ist gewöhnlich
Arzt und argumentiert gegen "den Kommunismus" und für "das Wohl seiner
Patienten". Fest steht hingegen, daß weder Lenin noch sonst wer je die Ärzte
beherrschte, geschweige denn das Gesundheitswesen. Es sei denn die Bevölkerung.
Und auch diese nur im Kielwasser der Ärzteschaft. Lenins letztes Gefecht nach
Jahrzehntennächten Schlaflosigkeit gipfelte in Boykottdrohungen gegen seine
wohlmeinenden Hausärzte. Mehr nicht. Aber wer kann uns daran hindern, schon
heute eben darin seine erste und einzige von Grund auf revolutionäre Tat zu
sehen?
Stalin, zunächst eifernder mosaischer Gottarzt
("... denn ich bin der HERR, dein Arzt", 2. Mose 15, 26), hatte in
jahrzehntelanger Kleinarbeit durch Stalinisten jeder Preisklasse alle möglichen
Leute als Krankheitsträger definieren und liquidieren lassen. Denn Krankheit,
ansteckend wie sie nun einmal sei, fordere geschwindeste und gesundeste Heilung.
Und Heilung fordere eben Opfer. Viele und höchste. Als er aber um 1950 einen
seiner berüchtigten Entlastungsangriffe in eigener Sache gegen die
"kosmopolitischen Mörder in den Ärztekitteln" (sog. Ärzteaffaire) startete,
scheiterte er so gründlich und endgültig wie nie zuvor.
Gute drei Jahre habe er alles nur Erdenkliche für
seine Gesundheit getan und seine politischen Patiencen so eifrig gelegt, wie eh
und je. Aber dennoch sei er lange vor der Zeit gestorben.
Von Menschenhand, läßt mancher Chronist
durchblicken.
Iatrophil diskret -, versteht sich!
Das Gesundheitswesen als politische Herrschaft in ihrer Absolutheit attackiert zu haben, dieses Verdienst schreiben wir Lenin zu. Hingegen durfte Stalin den Gesundheitsapparat nur solange verkörpern, als ihm die Ärzte eben diesen Körper ließen. Später haben sie ihn dann nur noch in Form der SERBSKY-Kliniken eingesetzt. Das auch dort sogenannte Haloperidol soll genau so gesundheitspolitisch schmecken, der Krebs genau so rückwärts machen, wie in vergleichbaren Einrichtungen andernorts.
Anders als Stalin brauchte Hitler nicht selbst gesundheitspolitisch aktiv zu werden. Kaum im Sattel, überließen ihn seine internationalen ärztlichen Steigbügelhalter seinem geliebten Kriegshandwerk, ihrem altangestammten Zuliefererbetrieb. Ihrerseits wandten sie sich gemächlich und unbehelligt, privatissime und nicht selten sogar gratis der Alleinherrschaft erst über Patient und Geschlecht, dann über Bevölkerung und Diktator zu. Das brachte sie ihrem Ziel, das tausendjährige Gesundheitswesen krisenfest und umsturzsicher in Bevölkerung und Politik unbegrenzt ausbaufähig zu verankern, ein gut Stück näher. Trotz aller Nürnberger- und Russeltribunale.
Die Norm aus
Gesundheit, archaischem Gläubiger-Schuldnerverhältnis und Geldform kann
politisch, ökonomisch und ideologisch, ethnisch, historisch und gesellschaftlich
modifiziert sein, wie immer sie will. Sie als solche mittels Zwangsanpassung
jedem Hirn, Herz und Hormonhaushalt und sei es durch Tötung einzukerben und
demnächst durch Fabrikation des Menschen-nach-Maß, ist und bleibt gleichermaßen
offenbare, wie bestgehütet-geheime Arztschöpfung. Und zwar von Biologie bis
Faktor Psy.
Der Angriff gegen alles Ärztliche ist die conditio
sine qua non aller Subversion und die via regia zum Unbewußten aus Gesundheit
und Geld. Handelnd-behandelt liegt es auf der Hand. Aber die Pathopraktik
schlägt es in den Wind.
Jedermann, der Münzen
in der Tasche trägt und ihren praktischen Gebrauch versteht, muß ganz bestimmte
begriffliche Abstraktionen im Kopf haben, mag er sich dessen bewußt sein oder
nicht, denn er behandelt diese Münzen faktisch, als ob sie eine unveränderliche
materielle Realität hätten. Die Abstraktionen, die es nirgends als im Denken
gibt, haben ihren Ur-sprung nicht in der Denk-Tätigkeit, sondern ausschließlich
in der geldvermittelten Tauschhandlung. Sie sehen eher nach ärztlicher
Praxis als nach Pathopraktik aus.
Daß die reinen Verstandesbegriffe nicht etwa das
Denken zum Subjekt haben, sondern irgendwie von "Außen" kommen, ist
durchgängiges Leitthema abendländischer Philosophiegeschichte: Parmenides
empfing die Erleuchtung des Begriffs, der ihm das Sein bedeutet, von Dike, der
Göttin des Rechts und der Wahrheit; Platon wußte sich nicht anders zu helfen und
schreibt die Begriffe einer Wiedererinnerung zu, auf Grund einer Seelenwanderung
(Metempsychose); für Kant nehmen die Grundanschauungsformen und die Kategorien
die Gestalt einer aller Erfahrung vorausgehenden Vorformung an.
Die in der Tauschhandlung stattfindende
Gleichsetzung des Warenbesitzers mit einer bestimmten Anzahl von Geldeinheiten
macht die "göttliche Kraft" (K. Marx) des Geldes aus: das Geld wird zur
wirklichen Macht über alles und jeden - "es ist die wahre Scheidemünze, wie das
wahre Bindungsmittel, die galvanochemische Kraft der Gesellschaft" (K. Marx).
Das, was durch das Geld für den Warenbesitzer ist, was er für sein Geld kaufen
kann, das ist er selber: die vorgestellte Anzahl von Geldeinheiten steht für die
Person (persona = Maske, von personare = hindurchtönen). Was da tönt ist nicht
die Kraft der Krankheit, sondern das unbewußt verrückte, vielgestaltig
verstärkte Echo des Geldbetriebs.
Im Tauschverhältnis ist das Produkt des einen
die Waffe zur Bemächtigung des Produkts des andern, Strategem der
berühmt-berüchtigten Befriedung.
Befriedigung nämlich wäre die wunschlos
revolutionäre Erfüllung in der Krankheit. Der Wert aber, Verhältnis der
Wechselseitigkeit zwischen Warenbesitzern, ist zu neun Zehnteln auf "Gesundheit"
bezogen, den inflationären Wert aller Werte. Gesundheit ist das wunschgebremste
allgegenwärtige Verschwinden. Wunschinhalt ist - verwünscht! - die Krankheit.
Gesundheit bleibt der FEHLER schlechthin, der Phallus, der (klinische) Fall, die
ärztliche Falle. Indessen aber schauen die Warenbesitzer ihr jeweils eigenes
Produkt als die Macht über den andern und über sich selbst an, d.h. ihr
eigenes Produkt hat sich auf die Hinterfüße gegen sie gestellt (auch nach K.
Marx). Am Ende aber zählt nur die Gesundheit -, der ärztliche Takt wird auch dem
gläubigsten Ohr zu dem, was er schon immer war: zum todsicheren count-down.
Am labilen Punkt des Umschlagens nämlich von Produktion in Destruktion schiebt sich der Befriedungsstratege aller Politik, Heils-Bringer aller Herrschaft als "göttlicher Arzt" (Kerényi) ins pathopraktische Blickfeld. Ob als Medizinmann, Schamane, Priester- oder sonstiger Sterbensfacharzt, stets waren und sind sie zur Stelle, wenn es darum geht, Widerstand als Befreiung von und Entfesselung der Krankheit gegen gesellschaftlich potenzierte Naturgewalt zu verfälschen, umzulügen und zu usurpieren. - Der "Andere", der das Ziel der revolutionären Erfüllung aus der Krankheit amputiert, um dem eigenen Überzähligsein zu entgehen, ist Iatrokrat. Im Namen der "Gesundheit". Er bildet die Matrix jeder Wunschpolitik und Profitökonomie. Und sie wissen, was sie tun.
So mußten zu entlassende "Irre" in der Mitte des 18. Jahrhunderts folgenden Revers (= Rückseite der Münze, schriftliche Verpflichtung) unterschreiben: "Ich Endes Unterschriebener reversiere mich hierdurch ... bey dem Worte der ewigen Wahrheit, so wahr mir nemlich Gott zur Seeligkeit verhelffen soll, daß ich mich nach erhaltener Befreyung vom bisherigen Arrest an niemand rächen wolle."
Seinem Wert angeglichen (Opfersteuern früher, Sozialabgaben und das Wertpapier Krankenschein heute) ist der Kranke überantwortet und ausgeliefert. Dem Kunstprodukt Gesundheitsmodell, diesem Arztprodukt und Artefakt schlechthin. So will es die Heilsgewalt (Iatrarchie): "Die Ärzte lernen auf unsere Gefahr, sie experimentieren und töten mit souveräner Straffreiheit, tatsächlich ist der Arzt der einzige, der töten darf". Dieser von Plinius Secundus vor tausendneunhundert Jahren niedergeschriebene Sachverhalt, zu dessen Totschweigern in neuerer Zeit unseres Wissens nur Blüchel und Illich noch nicht wieder gehören, dieser Sachverhalt also mit seit arch(e)aischen Zeiten tödlichem Ausgang (der alexandrinische Anatom Herophilos vivisezierte zum Tode verurteilte Verbrecher und Sklaven), zeigt nicht nur an, daß die Ärzteklasse ihr mordmonopolistisches Kriegshandwerk nur unter dem Beifall der Mehrzahl ausüben kann. Ist doch in der Welt des Mangels jeder der Andere, der Gegen-Mensch.
Aber erst der entwickelte soziale und demokratische Wohlfahrtsstaat wird sich vollends als eigentliche Domäne der Ärzteherrschaft entpuppen. Jede Demokratie ist letztlich Iatrodemokratie, zur Volksherrschaft erhobenes medizinisches Mordmonopol. Immer herrscht das Gesunde. Und das gesunde Volksempfinden ist ebenso geschwind - wie gesund.
Der schon Plinius Secundus geläufige Sachverhalt gibt auch darüber Aufschluß, daß der Arzt nicht nur die unveräußerliche Substanz der Ware Arbeitskraft, den Leib katastrisiert, sondern ebenso Denken und Gefühl generalstabsmäßig viviseziert und kartographiert.
Die "Geldseele, die in allen Gliedern der Produktionen und Bewegungen der bürgerlichen Gesellschaft steckt" (K. Marx), gibt sich somit vor allen andern Dingen als heilsgewaltig (iatrarchisch) programmiert zu erkennen. Nicht der Patient ist kybernetisch, sondern der Arzt vermittels der Geldseele.
Ungeniert und mit geradezu kapitalem Zynismus stellt die Ärzteklasse ihren Omnipotenzanspruch schon im Antiken Asklepioskult als Staatskult Nr. 1 zur Schau, setzt sie ihre gesellschaftlich-synthetische Steuerungs- und Direktionsfunktion in Umlauf: jedem Geldstück läßt sie - Wunderwerk präventiven Terrors - ihr Kainszeichen, den Äskulapstab einschmelzen. Entstehung und Funktion des Kainszeichens sind bekannt: "... daß keiner ihn erschlüge, der ihn anträfe" (1. Mose 4, 15). Heute bastelt sie, verschanzt hinter Sicherheitsstufe IV in biotechnischen Labors, am genetischen Code herum. Wer die Ärzte stört, riskiert sogar die kosmische Katastrophe.
Die gesellschaftlich-synthetische Funktion des
Geldes (Sohn-Rethel*) ist also Mimikry und
Folgeerscheinung zu derjenigen des Arztes: um sich vor Krankheit zu schützen,
die der Arzt als Überzähligkeit konstatiert, geht man zu demselben und bezahlt
in barer Münze (Geschenke, Opfersteuern, Sozialabgaben). Wenn K. Marx die
Entstehung des "theoretischen Subjekts" (Seele, Psyche, Subjektivität) in der
ökonomischen Ablösung der Geldfunktion vom Geldmaterial lokalisiert und damit in
der Gleichsetzung des Menschen mit dem Geld, so ist dies nur die eine Seite,
nämlich die ökonomische. Die andere Seite, nämlich das gesellschaftspolitisch
primär treibende und letztlich ausschlaggebende Moment wurzelt in der
Gleichsetzung des Menschen mit medizynisch bedeuteter "Gesundheit", also in der
iatrokratisch bestimmten Andersheit. Rassismus ist der gern gebrauchte Tarnname
dieser Andersheit, mit dem sich der Arzt achselzuckend aus der Affäre zieht, mit
dem der "politisch gebildete Mensch" das mordmonopolistische Wirken des Guten
Onkel Doktor deckt. Jeder Rassismus ist Iatrorassismus.
* Alfred Sohn-Rethel hat als Erster und Einziger das Ungenügen der marxistischen Theorie in Bezug auf die Naturwissenschaften behoben (‚Körperliche und geistige Arbeit‘). Er hat noch zu Lebzeiten (14.12.1985) unsere krankheitsbezügliche Anwendung seiner entdeckerischen Erkenntnisse in allen Teilen als korrekt und zutreffend bestätigt. In einer 1998 in Österreich verbreiteten Schrift des SPK sind die in dem vorliegenden Text ausgearbeiteten Zusammenhänge exemplarisch aufgegriffen. Es wird dabei jedem Versuch einer sog. Vergangenheitsbewältigung mit den Mitteln des üblichen Wissenschaftsbetriebs ein- für allemal Einhalt geboten (vgl. Colectivo Socialista de Pacientes / Frente de Pacientes, SPK/PF(H) y EMF español: ¡Fortísimo por la enfermedad!, S. 18ff, vgl. auch PATIENTENSTIMME Nr. 4/5: Gegen alle Wissenschaft). Huber
Beide Seiten sind in der sie verbindenden Mitte des
herrschenden Krankheits"Begriffs" gar wundersam versöhnt: "Krankheit ... ist ein
regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, dessen Eintritt entweder die
Notwendigkeit einer Heilbehandlung - allein oder in Verbindung mit
Arbeitsunfähigkeit - oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat" (Preußisches
Oberverwaltungsgericht vom 10. Oktober 1889, bestätigt in einem Urteil des
Bundessozialgerichts vom 16. Mai 1972).
Die Ärzteschaft, zieht man sie versuchsweise einmal als die unproduktive Klasse schlechthin in Betracht, sucht ihrer eigenen Vernichtung dadurch zu entgehen, daß sie die "unproduktiven" Überzähligen (Rassenhygiene, unwertes Leben) definiert, selektiert und verwaltet. In einem von den Ärzten über und hinter Hitler 1940 eingebrachten Gesetzesentwurf zur Lebensvernichtung hoben sie als Hauptkriterium die "Fähigkeit zu produktiver Arbeit" hervor. Und den Rest, der froh ist, nochmal davongekommen zu sein, hält sie durch die Hoffnung auf "ärztlichen Beistand", durch vorgegaukelten "therapeutischen Idealismus" bei der Stange (schon der SS-Führer Heinrich Himmler schwärmte gern und oft davon). Stange steht hier für Gesundheit, Wert, Wunsch, Phallus, Fall, Falle, kurz: für Fehler überhaupt.
Dergleichen muß übrigens schon dem alten Skeptiker Descartes vorgeschwebt haben, als er, "berufsverboten" und politisch zensiert, gerade die ärztliche Kunst als Allheilmittel über jeden grünen Klee hinaus pries und so tat, als setze er gerade in sie allein seine ganze Hoffnung auf eine künftige Veredelung des Menschengeschlechts.
Die kapitalistische Ausprägung des ärztlich gesteuerten Imperialismus nach Innen, der sich Heloten (gr.: heilotes = Gefangene, Staatssklaven im antiken Sparta) im eigenen Land schafft und diese medizinisch definiert, trat auf deutschem Boden erstmals ein knappes Jahrhundert zuvor in Erscheinung: die Iatrokratie als "medicinische Polizey" (Rau, Baldinger, Frank) erklärte sich schon damals nicht nur für die "innere Sicherheit des Staates" zuständig (J.P. Frank), sondern mehr noch für den vom damaligen Kameralismus neu- und wiederentdeckten Faktor "menschliche Arbeitskraft". - Moderne "Gesundheitspolitik" und Programme der "Gesunderhaltung der Bevölkerung" haben hier ihren ebenso ärztlichen wie heilsgewaltigen Ausgangspunkt.
Weil es auf der Hand liegt, geht es schwer in
die Köpfe, daß Gesundheit der erste und
letzte Rechtfertigungsgrund aller Heilsgewalt ist, jenseits und über Ideologie
und Kultur, Produktion und Politik.
Kristallisationspunkt im regulativen System der
Zwecke (KANT), reine Nützlichkeit und absolute Freiheit im System der
Zerrissenheit aus Geld und Sprache, dem System des plattesten, kältesten Todes
(HEGEL), braucht die Heilsgewalt weder ideologische noch sonstige Katalysatoren,
um aus der unterschwelligen Latenz des
ärztlichen Mordmonopols
in die Virulenz der Massenvernichtung umzuschlagen. Denn für die Gesundheit tun
sie alles, Volk und Knecht und Überwinder ...
Wenn es der Gesundheit nützt, dürfen Ärzte ihre
Gefangenen zu Tod begnadigen. Als zu skalpierende Kinder (Auschwitz) und als
verächtlich zu machende Selbstgemordete (alles Aktion Gnadentod).
Wenn es der Gesundheit nützt, stehen Millionen als
Versuchskarnickel bereit bis die Soll-Ziffer stimmt, und jeder, den es
"zufällig" trifft, denkt als erstes an seine Gesundheit, an das warme Leben, an
sein Image und fragt: "Warum gerade ich?". Und wieder an seine Gesundheit, wenn
er still beschließt: "Stirb du heute, ich aber erst morgen". Weisheiten aus dem
GULAG. Doch welcher östliche, welcher westliche Dissident praktiziert schon vom
Start weg Gesundheitsverachtung?
Weil es der Gesundheit nützt, gibt es die neue Euthanasiekampagne. Quer durch alle Medien, politische Richtungen, Altersgruppen, Bevölkerungs- und sonstige Klassen hindurch reicht das Engagement in pro und contra. Denn welcher sozialpolitische Arbeitskreis, und sei er noch so links, steht nicht fest auf dem Boden der Gesundheit? Hat doch H. MARCUSE jeden Linken schon 1968 sozialprophylaktisch unter Acht und Bann gestellt, für den Fall, er wage es, sich einer Verbesserung des Gesundheitswesens zu widersetzen. Nur die ärztlichen Drahtzieher, exemplarisch diejenigen in den Reformkliniken, in den Gesellschaften für geistige Gesundheit (WFMH) und Sozialpsychiatrie wollen im Hintergrund bleiben. Wenn die Gesundheit sagen, dann meinen sie medizynische Masseneuthanasie aus Zweckmäßigkeit. Mit maschinenmäßiger Präzision nämlich, wie wir gleich noch sehen werden, ist bei denen jeder Irrtum ausgeschlossen.
Denn Gesundheit ist, folgt man der "Logik des Lebens" wie sie FRANCOIS JAKOB für gewisse rhizomatisch-molekularrevolutionäre Kreise reflektiert, Produkt der Rechenmaschine aus Proteinen und Genen. Diese Rechenmaschinengesundheit kann das genetische Morsealphabet lesen. Und sie kann zählen. Natürlich nur bis zwei. Und dabei soll es denn auch bleiben. Denn wo sie irrt, ist Irrtum. Krankheit ein Irrtum innerhalb der genetischen Informatik! Mehr nicht. Dieser Maschine zufolge gehört es nun aber zum genetisch verankerten Gesundheitsprogramm, daß jeder Irrtum seine Beseitigung wünscht, jeder Gesundheitsmuffel folglich seine Auslöschung. Gesundheit fällt nun nicht mehr unter die höheren Werte, nach denen die spaßeshalber aufgesetzte kranke Optik mit Nietzsche, Nietzsche-Epigonen und allem drum und dran ihre Ausschau hält. Gesundheit ist nun Rechenmaschine alles wünschbar Toten, Rechenmaschine aller Todeswünsche, kurz: Wunschmaschine schlechthin.
Dieser Text wurde in Italien erstmals in der italienischen Zeitschrift CONTROinformazione Nr. 18 (Juni 1980), Mailand, veröffentlicht.
Diese
Neufassung eines unserer
SPK-Texte haben wir zum Vortrag gegen den Dissidentenkongreß des
Collettivo Freudiano, später: "Movimento Freudiano Internazionale MFI"
(Internationale Psychoanalytische Vereinigung) 1978 in Paris gewählt.
Als Frontpatienten konnten wir uns weder mit der
russischen Spielart der Dissidenz anfreunden, die ihr Heil beim Arzt sucht,
noch mit dem Unbewußten westlicher Prägung, das sein Heil in der Dissidenz
findet.
Ein detaillierter Rechenschaftsbericht über den Verdiglione-Kongreß erschien in L'ESPRESSO unter dem Titel: "Der schizophrene Revolver" (Februar 1978). Besagter Revolver wurde uns zugeschrieben. Dies in der Absicht, unseren auf dem Kongreß gehaltenen aufrüttelnden Vortrag "Zahlen und Überzählige" (siehe vorstehend) totzuschweigen. Die "Schizophrenie" ist kein Revolver. "Schizophrenie" ist eine Sache, ein Revolver (Rückwälzer) eine andere. Denn wo die Schrift es ist, die das Sterben verewigt (A. Verdiglione), da muß "Schizophrenie" beim Versuch, Patienten und Krankheit totzuschweigen, federführend gewesen sein, ebenfalls nach Verdiglione, auch bezüglich L'ESPRESSO. Unser Thema "Zahlen und Überzählige" hat 1978 dem Kongreßdirektorium um A. Verdiglione, damals noch Craxi-Anhänger, später verurteilt wegen einer Denunziationskampagne aus Geldfutterneid, angezettelt durch Basaglia-Kommunisten mit und ohne Schizophrenie-Revolver, ganz und gar nicht in die politische Kongreßlandschaft gepaßt. Dies die Begründung dafür, daß unser Kongreßvortrag "Zahlen und Überzählige" nicht in seinen Kongreßberichten veröffentlicht worden sei. Er wolle sich des Themas in einem eigenen Vortrag annehmen, hat er nachgeschoben. Ob dieser Vortrag je gehalten worden ist, und ob er ihn auch schriftlich vorgelegt hat, davon könnte sich der geneigte Leser selbst überzeugen, würde er fündiger als wir.
In Rom erschien das Buch "IL TEMPO IMPERFETTO, Dispositivi critici negli anni della restaurazione (1980-1995)" ("Die unvergangene / unvollendete Zeit. Kritische Dispositive in den Jahren der Restauration 1980-1995"). Darin untersucht der inzwischen verstorbene Claudio Mutini (1935-1999), ehemals Dozent an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Rom, Autor mehrerer Bücher, Gründer und Herausgeber zweier kulturell-politischer Zeitschriften mit wissenschaftlich-anspruchsvollem Niveau und Mitarbeiter anderer Periodika, zusammen mit Giorgio Patrizi in einer kritischen Sichtung die theoretischen und politischen westeuropäischen Strömungen der 80er und 90er Jahre. In dem Kapitel "Rilettura e proposte della teoria radicale" (Neusichtung und Vorschläge aus der radikalen Theorie) beginnt er mit einem Zitat des SPK/ PATIENTENFRONT aus einer italienischen Zeitschrift aus dem Jahre 1980, um im Folgenden anhand dieses Zitats zu verdeutlichen, daß der sogenannte "riflusso", die rückschrittliche Wende in den westeuropäischen politischen und theoretischen Strömungen der 80er und 90er Jahre zu verstehen ist aus der neoliberalistischen Entwicklung des Kapitalismus dieser Jahre. Unter Bezugnahme auf Walter Benjamin, Guy Debord, Adorno, Balthasar Gracián, Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Francis Fukuyama hebt er hier und in den folgenden Kapiteln das SPK und die PATIENTENFRONT [PF/SPK(H)] hervor als diejenigen, die als einzige diese Rückwendung im Westeuropa der 80er und 90er Jahre nicht mitvollzogen haben und für die Entwicklung der revolutionären Theorie und Praxis im Europa der heutigen Zeit von entscheidender Bedeutung sind.
P. Hogernig,
Diplom-Soziologe und Chemiker,
schlußredaktionell: Huber
KRANKHEIT IM RECHT