Werden aus Patienten Partisanen (Parteigänger) der Krankheit, dann ist nicht nur das erste und zuverlässigste Heilmittel gegen die "Medizin"‚ sondern auch gegen Krankheit selber im ganzen Umfang ihrer Kapitalisierung nach Mehr(Wert) und (Wehr)Medizin, nach Mehrmedizin und Wertwehr da.
Anmerkungen zum Grundriß der Medizingeschichte
Im Medizinstudium kommt die
Geschichte dieses Fachs nur beiläufig zum Vorschein. Als Füllsel in kleinen
Fächern, sofern sie vom einen oder anderen Herrn der Vorlesung als Hobby
betrieben wird. In der Augenklinik waren es viele Diapositive aus Kirchen.
Wunderheilung, "die Blinden sehen"‚ hatte also mit dem Ärztestand, der Medizin
im engeren Sinn, nichts zu tun. In der Hals-Nasen-Ohrenklinik ging es
hauptsächlich darum, wie dieses Fach seine Eigenständigkeit erlangte, behauptet
und verteidigt.
Sehr eindrucksvoll dabei der Rückgriff auf überlieferte Keilereien zwischen
Kollegen, zwecks Alleinbehandlung am Krankenbett und Darstellungen des Kampfes
ums Honorar auch im Arzt-Patient-Verhältnis, angereichert mit Anekdoten aus der
Lebenserfahrung des Vortragenden, d.h. betreffend seine Scherereien mit
zahlungsunwilligen Patienten. Und an die Adresse des Auditoriums: "Ihr künftigen
Ärzte, lernen Sie daraus, denn was hilft es dem Arzt, wenn der Patient geheilt,
er selber aber ruiniert ist?!"
Als Prüfungsfach ist "Geschichte der Medizin" nicht vorgesehen, also auch nach der Seite des Studierenden Hobby. Hat er Gelegenheit, einschlägige Vorlesungen und Übungen zu besuchen, dann beispielsweise um Sprüche wie den folgenden tiefsinnig zu fassen: Wenn der Arzt zugleich Philosoph ist, wird er dem Gotte gleich (Iatros gar philósophos isótheos, in etwa). Dem Leiter dieser Übung, selber Medizinprofessor und promovierter Philosoph, war von Gottgleichheit jedenfalls nichts anzumerken. Er hat nicht einmal das Minimum dessen geschafft, das nach Nietzsche für jeden halbwegs anständigen Gott oberstes Gebot ist: sich über sich selbst oder über was auch sonst totzulachen, geschweige denn an seinem Mitleid mit den Menschen zugrunde zu gehen.
Nur das Staunen, mit dem bekanntlich alle Philosophie beginnt, scheint ihn von Fachs wegen geschafft zu haben. Seit dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) seien ihm die Grundlagen seines Lehrgebäudes aus dem Leim (Schipperges, evtl. in "Medizin in der Kritik"‚ Kisker, veröffentlicht).
Wenn die Medizin erstens so wenig,
zweitens und dergleichen mehr und drittens darüberhinaus nichts weiter von ihrer
Geschichte dahermacht, dann doch wohl deshalb, weil sie weder Medizin noch
Geschichte ist, vielmehr nur Variation, Wiederholung des immer Gleichen unter
geänderten Verhältnissen und Nachfragen, kurz: bestenfalls verhinderte Medizin.
Zwar hat ein ehemaliger Linker, heute Professor für medizinische Soziologie
namens Deppe, erst neuerdings den seligen Bernadino Ramazzini (17. Jahrhundert)
und den Johann Peter Frank (18. Jahrhundert) als Kronzeugen sozusagen gegen
Arbeits- und Lebensverhältnisse im Zusammenhang mit Krankheit wieder mal
ausgegraben. Zwecks Bezuschussung dieser seiner Disziplin.
Was sich für Medizin ausgibt und zwar
unter Verhältnissen, die bei weitem zerstörerischer sind, als alle
Beschädigungen, denen sich Lebendiges je gegenübersah, kann als Medizin dem
Wesen nach sowieso nur Teil der Krankheit sein, die sie jeweils vorgibt zu
behandeln.
Die Geschichte der Medizin ist, wenn überhaupt als Geschichte, dann nur als
Geschichte der Entfremdung zu begreifen. Und nur in dieser Hinsicht ist ihr noch
mehr "Fortschritt" sicher. Wo immer sie über Jahrtausende hinweg "Neuland"
entdeckt hat, da war sie den Exponenten gesellschaftlicher Repression und
politischer Reaktion um ein Vielfaches voraus.
Jahrhunderte vor Griesinger und Kraepelin, die als Begründer einer eigenständigen Psychiatrie gelten, hatte die Medizin Menschen zu Spinnern (sogenannten Geisteskranken) verdinglicht, solche Menschen nämlich, bei denen das Verdingen nur unter den Bedingungen von Zwangsarbeit an Spinnrad und Webstuhl gewinnbringend für Duodezfürsten (Oberbonzen der Kleinstaaten) und dergleichen möglich schien, die sich den Luxus von Zucht- und Tollhäusern noch nicht leisten konnten (Paul Lüth, "Kritische Medizin", 1972). Daher nämlich die bekannte Formel: "Der spinnt".
Auch der Übergang vom Galgen, als
einer einfachen Maschine zur unendlich komplizierten "Maschine Mensch" ("L’homme
machine"‚ La Mettrie) war Pionierarbeit der Medizin, noch dazu eine eminent
heroische und ganz auf eigene Faust, denn wer dabei erwischt wurde – beim Klauen
Gehenkter zwecks Forschung nämlich – dem drohten vergleichbar einfache
Hebelkräfte.
In doppelter Hinsicht also mußte die Medizin sich hier über die Schranke Tod
hinwegsetzen, den die herrschenden Verhältnisse aus eigener Machtvollkommenheit
in vielen Fällen bemüht hatten, wo sich das sperrige Leben seiner Verwandlung in
ein Maschinenteil widersetzte.
Wo die Verhältnisse noch erst den
Spinnenden als Motor des Spinnrads vorsehen, da ist die Medizin längst bei der
Essenz, dem Spinner mit dem Stigma einer Sozialleiche, und der physisch Tote ist
ihr noch nicht tot genug – weg vom Galgen, und wenn schon nicht weg mit dem
Galgen (hic gaudet mors succurrere vitae!), dann gewissermaßen in Vorwegnahme
der "Vorbeugemedizin" hin zum perfekten Selbsthenker, zur Maschine Mensch, en
gros und en detail austauschbares, transplantierbares Organ (Organon,
Organismus, griechisch: Werkzeug, Mittel).
Kein Wunder, daß Descartes bei der Suche nach der Medizin als einzigem
wissenschaftlichen Mittel "den Menschen zu bessern" mit unerschütterlichem
philosophischem Scharfsinn, bei allem Bemühen über die Feststellung nicht hinaus
kam, daß er da völlig im Dunkeln tappe ("Discours de la méthode").
Sein Schüler, La Mettrie, hat diesen Funken Klarsicht wieder wettgemacht, als
Arzt der homme machine verfrankensteinert.
lm Ärztestaat des grauen Alexandrien – Medizin Staatsreligion, Aeskulapstab im Staatswappen und auf Münzen – mußte hingegen der Henker dem Arzt Vortritt lassen, zwecks Vivisektion.
Auch diese "Medizingeschichte" ist
noch nicht abgeschlossen, hermeneutisch nämlich reicht sie, als
wirkungsgeschichtlicher Atavismus, gleichsam bis in die Gegenwart.
So beispielsweise, wenn Ärzte, als Mitglieder von Menschenrechtskommissionen und
Weltärztebund, für die kunstgerechte Vermeidung von Zwischenfällen und für die
Vermeidung von Spuren, wie überhaupt für maximale Effizienz von Folterpraktiken
planend und verführend, auf jeden Fall aber mehr führend als ausführend, aktiv
werden (vgl. Gaglio, "Medizin und Profit"); oder mehr rudimentär – wenn sie, wie
im Fall eines der historisch ersten Revolutionäre (Babeuf 1793), die Guillotine
gegen den Versuch gezielter Sabotage schützen, indem sie den Revolutionär, der
für diese Maschine nur noch seine Verachtung, nur noch seinen Leichnam übrig zu
lassen beabsichtigte, nach fast gelungener Selbsttötung exekutions- und
termingerecht remittiert (wiederhergestellt), dem Henker zwecks Hinrichtung
zulieferten.
Oder die "Geschichte" der
Krankheitsbekämpfung im Rahmen des
nazistischen Rassenwahns.
Unter dem Vorwand Erbkrankheit hat die Medizin, Experiment gegen Menschen in
Viererpotenzen, erst einmal mitten hineingeschnitten in beschädigte Leben (also
immer noch Vivisektion). Aber die Erbkrankheit Medizin ist immer noch, was sie
war, genauer: wieder einmal ist sie den übrigen Exponenten gesellschaftlicher
Repression und politischer Reaktion um ein Vielfaches voraus, indem die Zahl
derer, deren Leben chronisch mit Hilfe von Anstalten in jahrzehntelanger
Kleinarbeit systematisch zerhackt, gespalten, kleingemacht wird, so daß es wohl
nur in den seltensten Fällen noch möglich wäre, in diesem Gehäcksel die Spuren
von Krankheit zu orten – folgt man der medizinischen Voraussetzung, sie sei da
je drin gewesen, die Vorwand für die Internierung war – diese Zahl bemißt sich
mittlerweile in Fünferpotenzen pro Stichtag, und sie alle werden genauso tot
"entlassen" wie die insgesamt "nur" 30-60 000 pro 5 Jahre offener, akuter
Erbwahnmedizin (Zahlen nach amtlichen Verlautbarungen, zit. nach "Spiegel"‚
"Frankfurter Rundschau").
Irgendwie riecht diese Medizin nach
Krieg, nach Bürgerkrieg von oben sowieso.
Penetrant wird dieser Geruch im Umfeld der Heeresmedizin. So war der
Vietnamkrieg aus der Sicht
der amerikanischen Heerespsychiater ineins Grund, Diagnostikum und Therapeutikum
dessen, womit Psychiater normalerweise dort zu tun hatten. Wurde ihnen ein "Fall
von nervösem Erschöpfungszustand" oder unter welchem Etikett auch immer
zugewiesen, so verzichteten sie, soweit irgend möglich darauf, irgendetwas von
dem, was sie von Fachs wegen drauf hatten anzuwenden, gleichgültig, ob die
Symptomatik nach "Black-Panther-Rebellion" oder nach "Psychose" aussah, nach
Sucht oder Simulantentum. Sie ordneten bei erstbester Gelegenheit in Hörweite
des "Falls" baldigen Fronteinsatz an. Innerhalb von Stunden bis Tagen habe die
Medizin Krieg gewirkt: In keineswegs seltenen Fällen seien aus den Betroffenen
"spontan" Freiwillige geworden, auf jeden Fall seien aber praktisch alle so
tauglich, wie gezogen, an die Front zurückgekehrt (Untersuchungen über den
weiteren "Verlauf" seien, aus welchen Gründen auch immer, unterblieben.
Vielleicht aus Rücksicht auf den Alleinvertretungsanspruch der
My-Lai-Massenmörder).
In diesem exemplarischen Fall ist
also der Krieg Bedingung dafür, von Möglichkeit, Notwendigkeit und Freiheit, von
"Medizin" und "Geschichte" (als Medizingeschichte) ganz abzusehen.
Hatte sich doch schon im Ersten Weltkrieg gezeigt, und im Zweiten wiederholt,
daß die sogenannten Kriegszitterer weniger aus dem Krieg, als aus der Tatsache
resultierten, daß dem Krieg die Medizin, besonders aber die klassische
Psychiatrie vor- und beigeordnet ist. Lange vor den kriegsspezifischen Schocks
durch Granatexplosionen (Shell-shock, engl.), Verschüttungen usw. gehörten
Elektroschocks, später Cardiazol- und Insulinschocks zum Anstaltsalltag. Sie
führten fast ebenso prompt zur Wiederherstellung wie zum Rückfall. So lag es für
die in der Kriegspause gewachsene (Wehr)Psychiatrie praktisch auf der Hand, vor
den Kriegsschocks die Waffen zu strecken, das "Kriegszittern" weg aus der Front
und weg aus dem Verkehr zu internieren und zu hospitalisieren; dies nicht
zuletzt deshalb, weil "Kriegszitterer"‚ wo immer sie sichtbar wurden, die
Kampfmoral nicht gerade hoben, andererseits aber als lebenslängliche
Anstaltsfälle ein nicht zu unterschätzendes Abschreckungspotential zur Abwehr
von Nachahmern in künftigen Kriegsfällen darstellten.
Die Rechnung ist denn auch weitgehend aufgegangen. Zumindest qualitativ. Schon im Zweiten Weltkrieg war das "Kriegszittern" sozusagen aus der Mode gekommen. Die Initiative ging an die Internisten über. Sie stellten u.a. die sogenannten Magenbataillone zusammen, d.h. Spezialeinheiten zum Einsatz in weniger frontnahen Abschnitten, ein Sammelbecken für alles, was schon vorab selektionstechnisch-wehrmedizinisch erfaßt worden war, und zwar quer durch alle Fächer, vom Stottern bis zum Senkfuß, und selbstverständlich erst recht alles, was die Frontlazarette an sogenannter Psychosomatik abzustoßen hatten, vom Magenkrüppel bis zum Bunkerkoller.
So führte denn die Medizin ihren ungleichen Krieg gegen den wehrkraftzersetzenden Systemfeind aus jeweils unterschiedlichen Positionen an jeweils verschiedenen Etappen – stets jedoch mit erscheinungsmäßig zivilen Hinterlandsmethoden. Deren Ausrichtung an den Bedürfnissen der Hauptkampflinie, insbesondere des jeweils nächsten Krieges, könnte jedem, der noch nicht wenigstens über die Strukturisomorphie von Medizin und Militär gestolpert ist, den, übrigens sehr schizophrenieverdächtigen, Schluß aufdrängen, es handele sich etwa beim "historischen" Sprung von Muskelzittern zum Magenbataillon um einen unerforscht unerforschlichen, auf jeden Fall aber autochthon krankheitsspezifischen Symptomwandel, oder aber um eine Art para- oder telefuturologische Steuerung am "anderen" Pol der Krankheit, der Medizin nämlich, also schlicht um Absicht und abgekartetes Spiel aus okkulter, im Zweifelsfall und unter Aufgeklärten: tiefenpsychologischer Quelle.
Und in der Tat war es gerade die US-Medizin, die diesem für sie zunächst so verhängnisvollen Irrtum aufgesessen ist. Anstatt streng ärztlich vorzugehen und das heißt immer: den Krieg als Inhalt der Archē Medizin zu begreifen, mehr noch: das vernichtende Kriegschaos als formsprengende Archē in Reinkultur freizusetzen, auf möglichst direktem Weg wieder an den Mann zu bringen und in mönchhaft bescheidener, um nicht zu sagen therapeutischer Manier (therapeutes = Mönch) Hand und Hirn zu beurlauben, sahen sich die Heeresmediziner dazu vergattert, ihre in der neuen Welt durch Dressur und Mode so heimisch gewordenen Freud’schen Individual- und Sozialtechniken ausgerechnet ins Umfeld revolutionärer Befreiungskriege zu führen.
Außer einer Menge Arbeitsaufwand und einer vergleichbar großen Ausbeute an analytischem Material habe diese Medizin – bestenfalls – angepaßte Kriegsinvalide produziert. Verständlich, dieser Versuch, denn das Militärische, verkappt als Aggressions- und Todestrieb, als Chaos-stiftendes "Kulturhindernis"‚ als allem vorausgesetzter Militarismus, dessen Stärke und letztlich unüberwindliche Durchschlagskraft gerade durch das Kulturgebot der Nächstenliebe in seiner ganzen praktischen Absurdität signalisiert werde, diese militärische Essenz ist Freud und allen Praktiken, die dieser Name mitumfaßt, durchaus immanent. Verständlich auch deshalb, weil diese Techniken sich mangels anderer bei Gefangenen, die denken gelernt hatten, alias "Opfer einer kommunistischen Gehirnwäsche" geworden waren, ziemlich zwanglos aufdrängten.
Dennoch war auch diese Koreamedizin,
gemessen an den Ergebnissen derjenigen, die sie in Vietnam ersatzlos vertrat,
eben keine, oder positiv ausgedrückt: blanke Selbstverleugnung.
Der wahre Feind dieser sogenannten Medizin ist nämlich nicht die Krankheit. Dann
nämlich wäre sie ja gegen den Kapitalismus und Privatismus überhaupt. Daß dem so
sei, war zu allen Zeiten nur Vorwand. Worum es sich handelt, ist einzig, den
Feind, d.h. hier den Patienten wie auch immer zu kapitulieren zu zwingen.
Von den durch Äquivalententausch und Klassenantagonismus vorgebahnten Entfremdungs- und Ausbeutungsmechanismen ist hier nur implizit die Rede. Sie tragen zum Verständnis der Krankheit Medizin, der Regelungen einer Intimfeindschaft weit über das hinaus, was der Nahkampf im Grabenkrieg spiegelt, jedenfalls nichts Spezifisches bei, und wozu es führt, wenn Sozialismus sich darauf beschränkt, das Gesundheitswesen zu kurieren – eine Frage an Dissidenten. Fortsetzung der Krankheit mit anderen Mitteln, also Krieg. Klassisch wie Clausewitz, die vietnamesische Psychiatrie ist also lediglich prototypisch für Medizin überhaupt zu betrachten. Sie hat so nur ihren vor"geschichtlichen" Ursprung, ihr noch nie Geschichte gewordenes Prinzip eingeholt und ist archaisch, arche-atrisch, ärztlich im eigentlichen Sinn geworden. Schließlich sollte auf dieser Medizin als alle Aggressionshandlungen tragender Basis (jeder Abschnitt der überall und ständig wechselnden Frontlinien und Hauptverbandsplätze mußte – Versprechen an jeden GI – innerhalb maximal 10 Hubschrauberminuten erreichbar sein usw.) ein ganzer Subkontinent "in die Steinzeit" zurückgebombt werden.
Es reichen ja sozusagen richtige Steinzeitkulturen bis in die Gegenwart, in denen die Bannführer, in der Regel Schamanen genannt, also eine Art Arztpriester, kurz Therapeuten eben, Krankheit oder was halt dafür gilt, grundsätzlich und letztlich nur dadurch vom Verband abwenden, daß sie einen Exponenten dieser numinosen Eigenschaft mit dem Bann belegen, woraufhin er binnen Stunden an der sogenannten Cannon’schen Reaktion stirbt (Streß) (Beispiele bei Lévi-Strauss: "Strukturale Anthropologie").
Nach einem prinzipiellen (qualitativen) Unterschied zur modernen Medizin, die es im Regelfall nur bis zur Kapitulation des Patienten treibt – und sei es mittels Couch und jahrelanger Analyse –, wird man vergeblich suchen.
Klar ist aber auch, daß der Hinweis
auf die Kategorie Steinzeit für eine entstehungsgeschichtliche Klärung der
Wesenheit von Medizin und Militarismus wenig hergibt. Zur
phänomenologisch-strukturalistischen Ableitung dieser Wesenheit hat z.B. C.
Polack in "La Medicine du Capital" detaillierte Ausführungen gemacht.
Vergleiche auch Berichte in gehobenen Presseartikeln: "Co-Carcinogene als Zünder
für den Krebs?" … "Ein Vergleich drängt sich auf: eine Artilleriegranate …
ungefährlich, wenn kein Pulver hinzukommt … Zünder … an sich harmlos … erst wenn
Schießpulver … tödlich werden" (Frankfurter Rundschau, 19.8.1975). Und am
folgenden Tag Überschrift: "Verteidigungstaktik der lebenden Zelle" …
"bestünde also kein Unterscheidungsvermögen … (bezieht sich auf "fremde" oder
"fremdwirkende Strukturen"‚ d.h. Antigene, d.h. Feinde), könnte der Organismus
nicht mit den eigenen immunologischen Attacken fertig werden."
Immerhin, wenn auch nur beiläufig,
ist hiermit gesagt und zugegeben, daß der Feind Antigen gegen den Feind
Abwehrsystem (ein anderes Wort für Patient, aber auch – nach ihrem
Selbstverständnis – für Medizin und Militär!) austauschbar ist.
Vermessen allerdings, hierin eine Dialektik oder gar Anzeichen für einen
historischen Umschwung der Medizin erkennen zu wollen
(aristotelisch-cartesianischer Mixmanichäismus, im Zweifelsfall).
Die genealogische Seite dieser
Wesenseinheit wird man wohl an den Übergängen, an den jeweiligen Nahtstellen
zwischen Urkommunismus und Privateigentum suchen müssen.
Erst in Gesellschaftsformen mit fortgeschrittener Trennung von Hirn und Hand
(Arbeitsteilung) gibt es die Voraussetzungen für jene urtümlichen Tauschformen,
bei denen Sachen dadurch in "Selbst"bewegung geraten, Privat-, d.h. Raubeigentum
werden, daß das daran klebende Leben durch Tötung davon getrennt wird
(Sohn-Rethel: "Geistige und körperliche Arbeit"). Dieser urige Handel,
systematisiert und durchorganisiert, heißt im einen Fall Krieg, im anderen
Behandlung. Das Transportmittel: Militär im einen, Medizin im anderen Fall.
Noch im späten Hellenismus ist manus das Wort für Heerscharen (vgl. Manipel) und
für die heilenden, segnenden und zeugenden Hände von Arzt und Priester (vgl.
Manipulation). Erst die Stufe des Privateigentums macht Krankheit möglich und
zwar als Eigenschaft, Eigentümlichkeit, isolierbar, einzelner Körper in Abhebung
vom allgemeinen Bann, aber auch als Eigentumsanspruch des Bannführers. Die
Heilkraft der Götter hat zur Voraussetzung, daß sie krank sind (Asklepios,
Chiron; cf. "die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug" (Parsifal),
mythisches Ersatzäquivalent).
Die Behandlung konkretisiert sich analog dem Steinzeit-Beispiel in der Tötung
des Patienten, wie der Ur-Handel in derjenigen des Feindes. Noch gibt es ja weit
und breit kein Geld und auch ersatzweises Opfern durch Schlachten, Verbrennen,
Aussetzen, Überlassen von Tieren, Kindern und anderen Lebensmitteln und
Kostbarkeiten kommt erst später, ist eine Art Schaltstück zwischen dem Bann als
dem einen universalen gesellschaftlichen Synthetikum und Geld, als dem anderen,
nämlich toter, vergangener, getöteter Arbeit, die einmal Leben war.
Sogar der Wehrsold fällt auf dieser Stufe noch weg, bzw. hat noch die Form der
"richtigen" Tötung. (Vielleicht ist der bekannte Spruch: "der Tod ist der Sünde
Sold, die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben" ein geschichtsloses Echo, denn
Krankheit und Medizin werden ja nach wie vor weithin unter Sünde rubriziert (von
Sund = trennender, bannender Meeresarm zwischen Insel und Festland)).
Der Bann wäre also schlicht Vorform
des Wertgesetzes, des Äquivalenzprinzips,
dessen, was sich nach und seit der Einführung des Geldes als Denken und
Verrücktheit manifestiert, getragen von der Wertform, die man komplementär zur
Absurdität des Werts, der, außer in verkrüppelnder "Produktivität"‚ nirgendwie
anders existiert, denn als verkrüppelter Gedanke (falsches Bewußtsein), wertvoll
aber nur als Geld ist, das Ding, in das hinein er obendrein auch noch
verrückt ist – diese alles Denken, jede Erfindung präkonstituierende
Wertform hat mit dem Bann den Ursprung aus dem Privateigentum gemeinsam.
Und heute wie damals hat die Medizin den Sinn, diesen Zusammenhang zu
stabilisieren, ist sie ihrerseits in der Form von Kapitulationsstrategie und
Wertfetischismus geronnener Wahnsinn.
Die wirkliche Medizin überwindet Wertschematismen und klassische Kriegskunst im
Patientenkleinkrieg.
Mit Blick auf die Verhältnisse in revolutionären Zusammenhängen, beginnend in der Volksrepublik China, ist festzustellen, daß Medizin und Geschichte als Medizingeschichte erst in diesem Jahrhundert gesellschaftliche Lebens-Wirklichkeit geworden sind. Wo sie jahrtausendelang in allen Variationen nur Ausdruck des Privateigentums in seiner "Selbst"bewegung waren, der Logik des ausgeschlossenen Lebens folgten – dieses ersten, d.h. geschichtlichen, des eigentlichen "non datur"‚ das die Warenlogik des Äquivalenzprinzips als "tertium non datur" nicht einmal widerspiegelt –, da ist inzwischen unter Hunderten von Millionen Menschen praktisch jeder im Stand, das Ex-Erbleiden Medizin in Schach zu halten, ist das "Geld des Geistes" (Marx), Dialektik, soweit sozialisiert, daß Schmerz und Zerrissenheit dem gesellschaftlichen Individuum gegenüber, das sie gleichsam zum "Zeichen" (seiner Herrschaft über die Geschichte) "herabsetzt" (Hegel), keine Wirklichkeit mehr haben.
Und hier ist es wirkliche Medizin,
die allen auf Befreiung und Revolutionierung zielenden Verhältnissen um ein
Vielfaches voraus ist.
Die Vivisektion am Menschen ist, um nur auf dieses Bei-Spiel zurückzugreifen, so
alltägliche Medizin, daß keiner der zugereisten Kritiker bisher auf den Gedanken
gekommen zu sein scheint, sie als solche zu denunzieren.
Und doch wird bei vollem Bewußtsein operiert und zwar ohne Narkose, ohne Hypnose
und Suggestion, ohne chemische Prämedikation. Sogar die Anwendung von
Akupunkturnadeln wird zunehmend überflüssig (cf. Alain
Peyrefitte: "Quand la Chine s’eveillera …"). Das volle Bewußtsein ist
(nichts anderes, als) der gesellschaftliche Mensch als Affekt, der nicht mehr
Schmerz und Zerrissenheit, Affektion, sondern Aktion aufgrund voll
entsprechender Idee ist (Spinoza; Spinoza versteht den Affekt als
psychosomatische Einheit (Identität), der dadurch überwunden wird, daß seine
Stelle ein anderer, stärkerer Affekt einnimmt. Ersterer resultiert aus äußeren
Kausalketten und ist ein Leidenszustand. Letzterer aus der Erkenntnis dieses
Zusammenhangs, die Aktivität ist und sich in der
Beseitigung der Affektionen und ihrer Ursachen bewährt. Vergl.
Mao bzgl. "äußere" / "innere"
Ursachen. Letztlich geht es nicht um Kausalitäten, sondern um die Dialektik von
A = non A, hier für A Vivisektion.)
Hirn (des Patienten) und Hand (des Operateurs) sind einander zugeeignet, haben
Entfremdung und Grenze nicht mehr zwischen sich, sondern betätigen sich als
Momente ihrer die gesamtgesellschaftliche Fortentwicklung vorwegnehmenden
(antizipierenden) Überwindung.
Sucht man nach dem (kleinsten)
gemeinsamen Nenner dieser Medizin und des Kleinkriegs, aus dem sie
hervorgegangen ist, so stößt man auf – "Nadelstiche". Sogar auf solche ins
eigene Fleisch: die einzige Kriegsart, die über lauter Niederlagen zum
Sieg führt, zum andern die Akupunktur, die sich im Affekt, der Aktion ist,
über-lebt. Was in dieser Praxis der "Nadelstiche" zählt, ist das in Bewegung
Setzen und in Bewegung Halten der allem immanenten Dialektik.
Die Beziehung zwischen Zähler und Nenner aber heißt Bruchstrich. Und das mit
Recht. Die theoretische Wurzel dieser Medizin reicht bis in die Erfahrungen des
Langen Marschs. Gesamtgesellschaftliche Praxis ist sie seit der
Kulturrevolution. Für den Bruchstrich hatte die Medizin der Herrschenden längst
gesorgt, und von daher hatten die Massen erst gar keine Veranlassung, diese
Medizin für Medizin zu halten.
Die Einheit Medizin lag schon so zweigeteilt vor – in Militarismus und "Medizin"
–, daß die beide Momente verbindende und überspringende revolutionäre Praxis als
Kulturrevolution lediglich aufzunehmen und fortzusetzen brauchte, was
kommunistische Verhältnisse rudimentär (als Wurzelstückwerk) entwickelt und
aufbewahrt hatten.
lm System des Hochkapitalismus und Imperialismus gibt es keinen Schlupfwinkel gesellschaftlichen Lebens, in dem der Gesamtkomplex Medizinmilitarismus nicht letztlich dominierendes Element ist. Zeugung und Überzeugung sind streng eigentumshygienisch durchorganisiert. Wo einst Handel und Behandlung als Stammeskriege der Tötung nicht entraten konnten, da regelt heutzutage das Nähere die "Medizin".
Zu keiner Zeit waren militärische und
paramilitärische Eingriffe besser getarnt. Zu keiner Zeit aber auch direkter und
nachhaltiger zu verletzen.
Die Antwort dieser "Medizin" auf die Waffe Krankheit hieß Kampfpanzer
(Ärztekammer zum SPK 1972), ihre Antwort auf Krankheit in Form des
Hungerstreiks waren und sind bannmäßige
Belagerung, Scheingefechte (unterkalorische Zwangsernährung), Wasser abstellen
und aushungern (1974/75).
Jede Aktion dieser Art ist als
Vorgeschichte wirklicher Medizin zu betrachten. Denn einmal treibt sie das Wesen
von "Medizin"‚ das sie beherrschende militärische Moment hervor, zum andern geht
"Medizin" in diesen Kleinkriegsaktivitäten samt dem sie beherrschenden
militärischen Wesenskern zu Bruch.
Anstatt ihrem heimlichen Feindbild, dem Patienten, werden ihr selber Kompromisse
und Kapitulationen aufgezwungen und abgerungen. Werden aus Patienten Partisanen
(Parteigänger) der Krankheit, dann ist nicht nur das erste und zuverlässigste
Heilmittel gegen die "Medizin"‚ sondern auch gegen Krankheit selber im ganzen
Umfang ihrer Kapitalisierung nach Mehr(Wert) und (Wehr)Medizin, nach Mehrmedizin
und Wertwehr da.
Es gibt hier keine autochthone Volksmedizin mehr, auf deren Rudimente noch zurückzugreifen wäre. Aber es gibt den Vorgriff auf Dialektik als der wertnegativen Wurzel des Affekts, der Aktion ist und der als Kleinkrieg das Sein des Da in die Dauer des Werdens einer Medizingeschichte hineinnimmt, die ihrem Begriff entspricht, demselben nämlich, der für die sogenannte Medizingeschichte umso schlimmer ist, als er in eine politische Sachwelt (Realität) fällt, in der eine moderne Iatrokratie sich zunehmend gezwungen sieht, ihr Heil in Appellen zur massenhaften Entwicklung von "Gesundheitsbewußtsein" zu suchen.
Aus SPK-Dokumentation Teil 3, 1. Auflage 1977