Begriff von Krankheit
Im folgenden Beitrag soll der Begriff der Krankheit entwickelt werden und zwar dialektisch die Krankheit der Einzelnen und der Gesellschaft. Dazu ein kurzer Überblick, wie wir vorgehen wollen. Es ist einzugehen auf die Dialektik von
Sein und Bewußtsein
Produktion und Erkenntnis
Produktion und Bedürfnisse
Subjekt – Objekt
Krankheit und Kapital
Symptomen
Sexualität und Angst
Theorie und Praxis
Agitation und Aktion
Krankheit und Revolution
1. Sein und Bewußtsein
Sein und Bewußtsein sind Momente des Produktionsprozesses. Momente, d.h. nichts absolut Selbständiges, sondern einander vermittelnd und gegenseitig bedingend. Aus diesen zunächst abstrakten, weil unmittelbaren Seiten muß einerseits die Totalität der Produktionsverhältnisse von uns begrifflich entwickelt werden; andererseits wird genau diese Totalität vorausgesetzt, da die beiden Momente Sein und Bewußtsein ja Abstraktionen von eben dieser Totalität sind. Das Ganze (gleich Produktion) läßt sich aber nicht von außen bestimmen (denn sonst gäbe es noch etwas außer diesem Ganzen, gegen das es bestimmt wäre), sondern diese Wirklichkeit prozessiert in sich, ist immanentes Bestimmen der Teile gegeneinander. Die vielfältige Beziehung der Teile aufeinander und auf das Ganze macht den Inhalt des Ganzen aus. Wenn Teil gesagt wird, ist das Ganze vorausgesetzt, aber abstrakt vorausgesetzt. Es muß sich als Resultat seiner vollständigen Vermittlung ergeben. In diesem Sinne ist es unwesentlich, wovon ausgegangen wird, weil jeder Anfang abstrakt, unvermittelt ist und die dialektische Entwicklung gerade so fortschreitet, das Unvermittelte, Absolute zum Vermittelten, Relativen herabzusetzen, es in den Gesamtzusammenhang zu stellen. Dieser Zusammenhang ist der totale des Kapitalismus.
Das Sein ist die Kategorie, die allem zukommt. Die Realität ist aber qualitatives Sein; Sein, das durch seine Bestimmtheit mit allem zusammenhängt und von allem verschieden ist und damit unter die Dialektik von Bestimmung und Beschaffenheit fällt, die die Endlichkeit von allem ausmacht. Das Sein ist also reines Gedankenprodukt; es ist nur als Gegenstand des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist das bewußte Sein, das Wissen vom Sein. Das Bewußtsein ist so schon gesetzt in Beziehung auf das Sein, es kann nur das Bewußtsein von einem Entgegenstehenden ("Gegenstand"), vom Sein sein. Das Sein ist also nur durch das Bewusstsein und das Bewußtsein nur durch das Sein. Das Wissen ist das erste Vermittelnde, das die beiden Momente enthält.
Diese Dialektik ist streng durchzuhalten und weder das Bewußtsein noch das Sein zum Absoluten zu machen, zu hypostasieren. Es geht also weder das Sein dem Bewußtsein, noch das Bewußtsein dem Sein voraus. Beide Kategorien sind gleichermaßen Produkt und verlieren ihren Sinn bei undialektischer "Extrapolation". Das Sein, das dem Bewußtsein vorausgehen soll und absolute Voraussetzung sein soll, ist doch Produkt selbst eben dieses Bewußtseins; die Vorstellung eines solchen Seins entsteht erst auf einer bestimmten Stufe der Produktivkräfte und ist eine Kategorie der Produktionsverhältnisse. In diesem Sinne ist alle Geschichte eine Produktion, die nur unter den Kategorien der erreichten Produktionsverhältnisse begriffen werden kann. Genauso das Sein, das unabhängig vom Bewußtsein sein soll, ist nur diese weitere Bestimmtheit des "Unabhängigseins", eine Bestimmtheit des Bewußtseins und ohne Realität.
Hier ist etwas gegen vulgäre Abbildtheorie zu sagen. Wenn gesagt wird, daß der Kapitalismus sich die Individuen produziert, die er braucht, so ist dies nur richtig mit dem anderen Satz, daß diese Individuen selbst den Kapitalismus produzieren. "Abbild" enthält schon das Schiefe, daß die eine Seite Wirklichkeit, die andere nur Bild sein soll; das Verhältnis von Sein und Bewußtsein ist aber lebendiger Prozeß, wo beide Seiten als Momente ebenso selbständig sind. Das Bewußtsein ist nicht einfach identisch mit dem Sein, sondern das Andere des Seins, negativ gegen es bestimmt und in seiner Grenze (Bestimmtheit) identisch mit dem Sein (Hegel, Logik I, Qualität).
Das Bewußtsein, von dem ausgegangen wurde, ist genauso eine Abstraktion vom realen Bewußtsein, wie das Sein von der Realität. Das reale Bewußtsein fällt genauso unter die Dialektik von Bestimmung und Beschaffenheit und verändert sich damit notwendig.
2. Produktion und Erkenntnis
Produktion ist der in sich selbst bestimmte Prozeß, in dem das Leben auf die Totalität übergreift und sich darin selbst erhält. Das Leben ist so identisch mit und unterschieden von der Totalität. Es bezieht sich auf anderes außer ihm und macht es zum Moment seiner selbst. Es ist wesentlich die Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem, "das sich entwickelnde und seine Entwicklung auflösende und in dieser Bewegung sich einfach erhaltende Ganze" (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Selbstbewußtsein).
Erkenntnis ist Resultat und Voraussetzung des Produktionsprozesses unter der Bestimmung des Bewußtseins. Der Produktionsprozeß selbst ist Einheit von Ideellem und Materiellem und stellt die Vermittlung von Sein und Bewußtsein dar. Diese Einheit ist folgendermaßen zu entwickeln: Produktion setzt einerseits eine Totalität von materiellen Bedingungen voraus, die ihre vielfältigen möglichen Beziehungen als Eigenschaften an ihnen tragen, andererseits ist die ideelle Voraussetzung, daß die unterschiedene Gegenständlichkeit zum Resultat (Produkt) zusammengefaßt ist, daß also das den Dingen immanente Anderssein schon ist, ehe es existiert. Jede Seite bezieht sich also auf die andere und auf sich selbst. Was jetzt an sich vorhanden ist, realisiert sich im Produktionsprozeß. Das Ergebnis ist Produkt und gleichermaßen Totalität von Bedingungen für neue Produktion. Diese Bedingungen greifen ebenso auf das Bewußtsein über (produzieren das Bewußtsein), wie das Bewußtsein auf die Dinge übergreift.
Es gibt also keine Trennung von "objektiver" und "subjektiver" Erkenntnis, oder besser gesagt, getrennt werden kann nur das, was zusammenhängt. Unmittelbare Voraussetzung für Erkenntnis sind die Sinne. (Es wird sich ergeben, daß die Sinne ebenso Produkt sind.) Die Erkenntnis beginnt also mit der sinnlichen Gewißheit (Hegel, Phänomenologie des Geistes), mit dem ganz abstrakt Einzelnen. Erkenntnis ist aber gesellschaftlich (Sprache) und muß so notwendig fortgehen zur Wahrnehmung, dem Betrachten des einzelnen Gegenstands unter der Voraussetzung der Allgemeinheit. Jetzt zeigen sich die Dinge (und ein Ding ist alles, was Eigenschaften hat) als gekennzeichnet vom wesentlichen Widerspruch von Bestimmung und Beschaffenheit. Die Eigenschaften sind aber gerade das Resultat des Produktionsprozesses (ein Ding verändert sich mit seinen Eigenschaften). Erkenntnis ist jetzt das Erkennen des inneren gesetzmäßigen Widerspruchs der Dinge als Voraussetzung neuer und Resultat vergangener Produktion.
Gesetze sind aber selbst widersprüchlich und stehen im Gegensatz zu ihrer Realität. Die gesetzmäßig begriffene Realität ist Produktion des Bewußtseins und damit Begriff, nämlich allseitige Beziehung von Bestimmungen, die selbst Abstraktionen sind, als in sich widersprüchliches Ganzes. Der Begriff ist also subjektiv gerade insofern er objektiv ist. Die Entwicklung schlägt so um ins abstrakte Selbstbewußtsein; abstrakt, da Selbstbewußtsein gesellschaftlich ist und seine gesellschaftlichen Bestimmungen erst entwickeln muß. Das ist die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, die als Resultat die Umkehrung dieses Verhältnisses im Produkt hat. (Denn aus dem Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft folgt, daß die Knechte produzieren; sie sind es also, die sich mit der gegenständlichen Realität auseinandersetzen, die den Produktionsprozeß im Griff haben. Sie sind diejenigen, die den lebendigen Prozeß in Gang halten. Die Herren sind also von den Knechten total abhängig und zudem überflüssig.) Das ist die Dialektik von Lohnarbeit und Kapital.
Wenn die Sinne zuerst Voraussetzung für Erkenntnis waren (Sensualisten: nichts ist in der Erkenntnis, was nicht vorher in den Sinnen war), so ist das Verhältnis jetzt umgekehrt: die Unterschiede, die die Sinne machen und wodurch sie bestimmt sind, sind Abstraktionen des Produktionsprozesses, selbst Produkt. Es ist also ebenso sehr nichts in den Sinnen, was nicht vorher im Intellekt war.
Noch kurz zum Begriff der Natur:
Die Natur ist das Außer-Sich-Sein der Idee. D.h., Natur ist das räumlich und zeitlich Auseinandergelegte und Identische mit seinem Begriff, denn Natur kann erst als "objektiv" bestimmt werden, wenn sie begriffen ist. Dialektisches Verhältnis: die Natur ist wiederum Voraussetzung des Begriffs. Die Kategorien, die geistigen Formen, in denen die Wirklichkeit begriffen und verändert wird (wie Natur, Existenz, Objektivität, …), sind Ergebnisse der Produktion. Ganz allgemein kann man das dialektische Verhältnis von Natur und Gesellschaft etwa so bezeichnen: Jede Seite ist ein Teil des Ganzen (des Produktionsprozesses); aber wenn so getrennt wird, ist jede Seite selbst das in sich bestimmte Ganze und enthält die andere Seite als Moment. Genauso wie die Gesellschaft als Teil der Natur angesehen werden kann (Marx: Der Mensch wirkt selbst als Naturkraft in der Natur, Ökonomisch-philosophische Manuskripte), ist die Natur Teil der Gesellschaft (ohne den diese keine ihrer Bestimmungen entfalten kann).
Noch eins für die, die sich "Materialisten" nennen: Der Materie-Begriff. Lenin schreibt sinngemäß (im Empiriokritizismus), daß die Materie im Prozeß ihrer wissenschaftlichen Durchdringung sämtliche Bestimmungen verloren hat, die man ihr zuschrieb (etwa die der Härte, …), und schließlich nur noch bestimmt werden kann, als "außerhalb des Bewußtseins Existierendes". Also das Bewußtsein wird zur Definition der Materie herangezogen; Materie als reines Gedankenprodukt. Die "vulgären Materialisten", die glauben, von der Materie auszugehen, gehen in Wirklichkeit vom ganz oberflächlichen sinnlichen Schein aus und halten damit das Nichtige, Verschwindende für das Reelste.
Unser Begriff des dialektischen Materialismus ist der der Vergegenständlichung des Produktionsprozesses als "Jenseits" bezüglich Sein und Bewußtsein. Die Qualitäten, die sich auf der Quantifizierung (Arbeitszeit) aufbauen, sich zum Objekt machen, bestimmen diese zur Materie.
3. Produktion und Bedürfnisse
Bedürfnis ist Mangelempfinden, Mangel irgendeines Objektes; das Lebendige greift auf anderes über und hat darin zugleich seine Schranke: Es soll etwas sein, was nicht ist. In der Schranke als Einheit von Sein und Sollen ist es enthalten, daß sie überschritten, negiert werden muß. Das Bewußtsein verhält sich negativ zur Schranke, indem es sie als Schranke weiß, und muß praktisch werden, handeln.
Bedürfnisse sind die Grundlage der Produktion, die darauf abzielt, das nötige Objekt bereitzustellen und damit den Mangel aufzuheben. Von den Produkten sind aber die Bedürfnisse wiederum abhängig: denn das Bedürfnis ist Mangelempfinden eines bestimmten produzierten Objekts. Bedürfnisse sind also selbst Produkte, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses.
Die kapitalistische Dialektik von Tausch- und Gebrauchswert stellt sich an den Bedürfnissen so dar: Die Bedürfnisse sind die Voraussetzung für qualitativ bestimmte Arbeit, für Gebrauchswert. Privateigentum und Arbeitsteilung erzeugen jedoch notwendig die Produktion von Waren, Tauschwert. Im Tauschwert gilt die Arbeit nur als Quantität, die qualitative Seite ist zwar notwendig, aber unwesentlich. Der sich selbst produzierende und vermehrende Tauschwert ist das Kapital, und für dieses sind Gebrauchswerte nur Abfallprodukte der Mehrwertproduktion. D.h. aber für die Bedürfnisse, die qualitativer Natur sind, daß sie quantifiziert, gemessen, verglichen, gehandelt werden; daß sie Waren sind, die für ihren Besitzer nur als Tauschobjekt Bedeutung haben. Das Schlagwort Manipulation hat also in jedem Fall nur moralischen Charakter.
Die totale Funktionalisierung der Produzierenden, die Herabsetzung der Bedürfnisse zum relativen, unwesentlichen, produzierten Moment, kann nur so beseitigt werden, daß die "schlechte" Seite des Widerspruchs, nämlich die Tatsache, daß die Bedürfnisse Produkte sind, selbst voll entfaltet und entwickelt wird. D.h., wir nehmen bewußt und kollektiv die Produktion der Bedürfnisse in die eigenen Hände, oder anders ausgedrückt: das Bewußtsein verhält sich zu sich selbst als Produkt und Produzierendes.
An dieser Stelle ist etwas zu einer undialektischen Unterscheidung von Primär- oder Grund-, und Sekundärbedürfnissen zu sagen. Zu den Primärbedürfnissen werden gewöhnlich Hunger und Sexualität gezählt, vielleicht noch Wärme (Wohnung und Kleidung). Damit ist aber nur gesagt, daß Leben sich selbst reproduziert, daß es ein Produktionsverhältnis gibt. Die bestimmten Produktionsverhältnisse produzieren ihrerseits notwendig die entsprechenden Bedürfnisse, und ein Bedürfnis wie das andere ist aus derselben Notwendigkeit heraus erzeugt.
4. Subjekt – Objekt
Subjekt ist das, was sich frei in Unterschieden entfaltet. Objekt ist das, was sich konstituiert im Entfaltungsprozeß des Subjekts. Sich etwas zum Objekt machen, setzt also einiges voraus. "Objekt", sagt Kant (Kritik der reinen Vernunft), "ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereint ist. Alle Vereinigung der Vorstellungen erfordert aber Einheit des Bewußtseins in der Synthesis derselben. Folglich ist die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit ausmacht …" (Hegel, Logik II, Subjektive Logik).
Frei in Unterschieden entfalten kann sich aber in der bürgerlichen Gesellschaft nur das Kapital, das dann jede Einzelheit bestimmt. Die einzelnen Individuen sind nur Objekte der Notwendigkeiten des kapitalistischen Verwertungsprozesses, der das Subjekt ist, das alles bestimmt. Die Beziehungen der Einzelnen untereinander sind also Objekt-Objekt-Beziehungen; von freiem Willen kann keine Rede sein, denn der Wille ist nur das, wie sich die Notwendigkeiten des Kapitals im Einzelnen darstellen.
Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind aber selbst Produkt dieser Einzelnen, indem diese sich als Objekt verhalten, halten sie die Produktionsverhältnisse aufrecht. In Bezug auf die Verhältnisse sind sie also die Produzenten, ihre Zusammenarbeit ohne Bewußtsein des Zusammenhangs ist selber die Notwendigkeit, der sie unterworfen sind. Sie selbst sind also auf diese passive Weise Subjekt; in ihren Aktivitäten sind sie aber totale Objekte.
Die Dialektik von Subjekt und Objekt schlägt folglich um, wenn die einzelnen Objekte sich als kollektives Subjekt erkennen und sich die gesellschaftlichen Verhältnisse als ihr Produkt zum Objekt machen. Die Notwendigkeit dieses Umschlagens liegt objektiv und subjektiv in der Krankheit. Die politische Identität der Bewußtseine, die nötig ist, um sich die Gesellschaft zum Objekt zu machen, läßt sich nur aus der Krankheit entwickeln.
5. Krankheit und Kapital
Krankheit ist in sich gebrochenes, sich selbst widersprechendes Leben; also Leben, das sich in dem Prozeß, in dem es sich erhält, zugleich vernichtet. Seit Marx ist klar, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse davon gekennzeichnet sind, daß die Produktion unmittelbar identisch ist mit der Destruktion der Produktivkräfte. Denn die Ausgebeuteten sind gezwungen, ihre Arbeitskraft, das ist Körper und Denken, also ihr Leben zu verkaufen, um ein Leben zu fristen, das für sie gar keines ist. Produkte sind deshalb wertvoll, weil sie das zerbrochene Leben, den Verschleiß der Ausgebeuteten, ihre Arbeitskraft in sich enthalten. Sie sind also Mordwaffen und wertvoll, weil Blut daran klebt. Der Austausch der Produkte ist somit gleichbedeutend mit dem Austausch von stückweise gemordetem Leben oder Krankheit.
Um in diesen mörderischen Verhältnissen aber überhaupt für das Kapital produzieren zu können, um sich selbst in den Ausbeutungsverhältnissen aufzugeben, ist sich selbst widersprechendes Leben = Krankheit schon Voraussetzung. Die Krankheit ist also die Kraft, die die Verhältnisse aufrechterhält und genauso jedes einzelne Produkt erzeugt; die Produkte selber sind die gegenständliche Anhäufung der Krankheit der Massen. Krankheit ist Produktivkraft und wie das Kapital prozessierend, um sich greifend, expansiv; Krankheit ist Subjekt. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Produktion = Destruktion ist, Verhältnisse, die sich selber widersprechen, sind krank.
Der Einzelne hat den übermächtigen gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber keine andere Möglichkeit, sein Leben zu erhalten, als es dem Produktionsprozeß preiszugeben, also es zu vernichten. In diesem Produktionsprozeß wird zum Produkt, zur Ware, wer produziert (auch nach Degenhardt). Das Leben, das der Einzelne erhalten will, ist identisch mit den Bedürfnissen, gemäß denen das Leben sich auf Objekte bezieht; um zu leben, oder, identisch, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, muß er produzieren; d.h. aber, in der kapitalistischen Produktion sein Leben = Bedürfnisse aufgeben. Und in der mörderischen Mehrwertproduktion werden mit den Abfallprodukten die entsprechenden Bedürfnisse produziert; Bedürfnisse sind aber wieder Ausgangspunkt dieses ständigen Prozesses, widersprechen sich also selbst und enthalten keine Möglichkeit der Befriedigung, sondern nur die Notwendigkeiten des Kapitals.
Da die gesellschaftlichen Verhältnisse sich dem Einzelnen gegenüber als Naturmacht und unveränderbar darstellen, kann er die Krankheit nicht als gesellschaftlich produziert oder die Gesellschaft nicht als krank erkennen. Er eignet sich die Krankheit als individuelles Leiden an, als persönliches selbstverschuldetes Elend, das individuell verwaltet werden muß. Er nimmt damit die Selbstzerstörung endgültig in die eigenen Hände.
Wenn die Möglichkeit, die Krankheit individuell zu verwalten, nicht gegeben ist – und diese Möglichkeit wird ihm notwendig genommen; denn die Verhältnisse, die sich der einzelne Kranke schafft, um sich die Krankheit anzueignen, sind total abhängig von der naturwüchsig zuschlagenden Macht des Kapitals, deren Notwendigkeiten den Schein, mit dem der Einzelne sich umgibt, zerschlagen, – wenn also diese Möglichkeit nicht gegeben ist, so entwickelt sich aus dem bewußtlosen Unglück notwendig ein unglückliches Bewußtsein, das die Identität von Kapital und Krankheit erkennt. Der Leidensdruck als subjektive Notwendigkeit der Veränderung wird politisch, der Kranke ist Patient (von pati = leiden).
Damit ist klar, daß der Kranke in seiner Krankheit, in seinen inneren Widersprüchen die Realität adäquat widerspiegelt. Dieses realitätsadäquate Bewußtsein der Ausgebeuteten ist also ein Ding außerhalb von ihnen, die Krankheit.
Jetzt wird gewöhnlich eingewendet, daß aber keineswegs jede Krankheit gesellschaftlich bedingt oder verursacht sei, sondern es gäbe bestimmte natürliche Bedingungen für Krankheit, die gesellschafts-politisch nicht zu lösen seien. Das ist leicht zu erledigen. Denn
1. daß bestimmte Erscheinungsformen des Lebens in den herrschenden Verhältnissen krank genannt werden, ist in der ökonomischen Struktur dieser Verhältnisse begründet und ist abhängig von der Verwertbarkeit dieses Einzelnen. Daß er also aus der Gesellschaft herausfällt, ist nicht von Natur, sondern vom Kapital gegeben.
2. Nicht nur Körper und Denken sind vom Kapitalismus total bestimmt, sondern die Existenz jedes Einzelnen selbst ist Ergebnis ökonomischer Bedingungen. Schon vor der Geburt ist jeder Produkt des Kapitals.
6. Symptome
Symptome sind die mit einem Leidensdruck verbundenen Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Krankheit im Einzelnen. Obwohl gesellschaftlich produziert, werden sie individuell verwaltet oder angeeignet. D.h., der Kranke kann sich selbst nicht in den Zusammenhang stellen; sie sind ihm zugleich fremd. Im Zusammenhang gesehen sind die Symptome aber Protest gegen die Grundstrukturen der Gesellschaft; der gesellschaftliche Zusammenhang produziert die Symptome aber gerade als zusammenhanglos, isoliert, individuell, – oder der Protest ist gehemmt. Der Versuch der individuellen Lösung des Leidens ergibt nur eine schlechte Unendlichkeit, daß ein Symptom das andere ablöst, bis das kranke Leben endgültig vom Kapital aufgefressen ist.
Hier kann kurz einem Mißverständnis vorgebeugt werden: krank ist nicht etwa der Gegensatz von gesund, sondern von Leben. Gesund ist eine Bezeichnung der Herrschenden, die nichts weiter besagt, als daß die Symptome so gelagert sind, daß der Kranke sich reibungslos in den Ausbeutungsprozeß einfügt. Heilung ist dann der Prozeß der Entfremdung, Enteignung der Krankheit, und gesund sein heißt, lebendig tot sein.
Die Bedeutung der Symptome ist die, daß sie der individuelle bewußtlose Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche sind, sinnlich-übersinnliche Dinge. Sie sind die gehemmte Form einer realitätsadäquaten Kommunikation, also Beziehung auf andere und gleichzeitig Isolation.
Die Symptome des Einzelnen sind analog den Symptomen = Krisen der ökonomischen Verhältnisse; deren Heilung, das Krisenmanagement, setzt genauso an der Oberfläche an, ohne die inneren Widersprüche zu berühren.
Hervorragendes Beispiel für in sich gebrochenes Leben, für Symptomproduktion ist die Dialektik von Sexualität und Angst.
7. Sexualität und Angst
Sexualität ist zunächst nur als Abstraktum bestimmbar, um dann zu entwickeln, wie die Sexualität in den kapitalistischen Verhältnissen erscheint. Nach der hier in Betracht kommenden allgemeinen Charakteristik ist Sexualität Produktivität im Sinne expansiver Freisetzung von Energie; denn es ist davon auszugehen, daß der lebende Organismus Spannungszustände produziert, zu deren Lösung er über sich selbst hinaus auf Objekte übergreifen muß. Die Bedürfnisbefriedigung produziert günstigenfalls über die Beseitigung von Unlust hinaus Erlebnisqualitäten, die als Lustgewinn bezeichnet werden. Die weitere Bestimmung der Sexualität ist Reproduktion als Fortpflanzung. Die von den Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnissen gelöste, abstrakte, uneingeschränkte Sexualität hat ihre Schranke in ihr selbst – siehe den Begriff der Selbststeuerung von W. Reich. Keines der geltenden moralischen Kriterien ist also im Stande, zu entscheiden, was Sexualität ist und was nicht, sondern das Kriterium liefert die Sexualität selbst, nämlich die Produktion von Lust und die Möglichkeit, im Akt der Freisetzung von Lust Subjekt-Objekt-Verhältnisse in Subjekt-Subjekt-Verhältnisse überzuführen.
Die Abstraktion von den gesellschaftlichen Zwängen ist aber nur theoretisch zu leisten. Die durch den Wirtschaftsprozeß total gesteuerte Sexualität ist nur in die konkrete Phase der Selbststeuerung überzuführen, dadurch, daß der sie von außen steuernde, die menschliche Entfremdung konstituierende Wirtschaftsapparat in seiner derzeitigen Form und Ordnung völlig zerschlagen wird. Gemessen an den heutigen Ordnungsstrukturen, nämlich Gesetzen, Staatsformationen und Steuerungsmechanismen gesellschaftlicher Gewalt, die dem sich selbst steuernden Sexualverhalten fremd sind, kann die gesellschaftliche Form der Selbststeuerung nur eine anarchistische sein.
Angst ist mehr als nur der Gegensatz von Sexualität; im Extremfall ist sie mit Sexualität identisch, d.h. wir finden an Stelle von Sexualität Angst. Angst ist Rückzug und Kontraktion, das Verkriechen in sich selbst zurück, also eine der (expansiven) Sexualität analoge Bewegung, im Unterschied dazu aber totale Richtungsumkehr. Davon ausgehend, daß Leben sich notwendig äußert, steht die Äußerung im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen; sie "prallt zurück" auf das Leben selbst und richtet sich gegen das Leben. Das Leben samt seinen Äußerungen ist aber selbst gesellschaftliches Produkt; dieser jeder Äußerung immanente Widerspruch ist Angst. Das Verhältnis wird dadurch umgekehrt, daß der Widerspruch sich gegen die Gesellschaft richtet, daß also die revolutionäre Seite der Dialektik von Produziert-Sein und Produzieren, nämlich das Produzieren, voll entwickelt wird. Um so zum Leben zu kommen, muß es im Kampf eingesetzt werden; diese eine entscheidende Angst sich klargemacht, läßt sich jede andere auflösen.
Die beiden Momente Sexualität und Angst im Prozesse bilden auf der einen Seite die regressiven Erscheinungsformen Moral, Eigentumsfetischismus usw., auf der anderen Seite die Notwendigkeit, daß jede Lebensäußerung sich auf das Ziel der sozialrevolutionären Umwälzung hin ausrichtet. Die einzige Form der Sexualität, expansiv Energie freizusetzen, ist die Revolution.
8. Theorie und Praxis
Theorie ist ein System von Begriffen, die die Wirklichkeit in ihren inneren Widersprüchen erfassen, und die es enthalten, wie diese Wirklichkeit in Bewegung gebracht werden kann; da wir den Geschichtsprozeß nicht in den eigenen Händen haben, ist die Theorie notwendig unvollständig, und das daraus folgende Handeln unter bestimmten Umständen falsch; jeder Fehler, als solcher erkannt, ist aber Moment der Wahrheit, die ja selbst der ganze Prozeß ist, in den das Handeln eingeht und darin verschwindet. Die Theorie wird dadurch vollständiger, umfassender. Die Schranke der Theorie wird also im Handeln, in der Praxis aufgehoben, und genauso baut sich nur auf der Basis der Praxis eine vollständige Theorie auf; wer nicht von dem Standpunkt ausgeht, daß mit der jeweiligen erarbeiteten Theorie zur Praxis übergegangen werden muß, kommt nie zu einer adäquaten Theorie der Wirklichkeit, damit nie zur Praxis.
Genauso wie die Praxis das Korrektiv der Theorie ist, ist umgekehrt eine Theorie der Zusammenhänge Bedingung für eine konsequente Praxis.. Eine Theorie muß also von vornherein davon ausgehen, alles zu umfassen; eine Theorie, die nur Teilsysteme der bürgerlichen Gesellschaft erklären kann, radikalisiert sich entweder in der Praxis d.h. sie dringt vor zum Grundwiderspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, der alles bestimmt, und begreift damit das Teilsystem in dem totalen Zusammenhang, der es selbst erst bestimmt, – oder die Theorie scheitert, d.h. sie integriert sich in das bürgerliche trennende System der reaktionären Teilwissenschaften.
9. Agitation und Aktion
Spinoza sagt: "Ich sage, daß wir dann handeln, wenn in oder außer uns etwas geschieht, dessen zureichende Ursache wir sind, d.h. wenn aus unserer Natur etwas in oder außer uns folgt, das durch sie allein klar und deutlich erkannt werden kann; dagegen sage ich, daß wir leiden, wenn etwas in uns geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, von dem wir nur die partielle Ursache sind." (Ethik, III: Von den Affekten)
Aus dem bis jetzt Gesagten ergibt sich zwingend, wie aus dem Leiden das Handeln zu entwickeln ist. Die Bedürfnisse des Einzelnen werden so aufgenommen, wie sie produziert sind; sie können nicht an einem von außen angelegten Maßstab gemessen werden, sondern in kollektiver Arbeit werden die den Bedürfnissen immanenten Widersprüche entwickelt. Dadurch werden diese über sich hinausgetrieben und damit die subjektive Notwendigkeit der Umwälzung der bestehenden Verhältnisse für jeden Einzelnen erarbeitet. Dabei ist also zu entwickeln, daß die Beziehungen zwischen den Einzelnen Objekt-Objekt-Beziehungen sind; daß Denken und Körper kapitalistisch vorprogrammiert sind; daß das individuelle Elend identisch ist mit den gesellschaftlichen Widersprüchen; und daß der Umschlag vom Objekt zum Subjekt des Geschichtsprozesses nur kollektiv zu leisten ist. So wird die Hemmung des Protestes, den die Symptome darstellen, in die Dialektik von Individuum und Gesellschaft aufgelöst; aus den gehemmten Affekten der Patienten (d.h. der bewußt Leidenden) werden die Energien von Handelnden freigesetzt und genau der Explosivstoff scharf gemacht, der das herrschende System des permanenten Mordes zerschlagen wird. Die Agitation ist so selbst Aktion, das In-Gang-Setzen des einheitlichen Prozesses der Umwälzung des Bewußtseins wie der Realität.
Diese Arbeit leisten wir inzwischen über 1 Jahr im SPK in einer expansiven Praxis; eine Kritik an dieser Praxis kann nur immanente Kritik aus eigener Praxis sein, eine Kritik, die an unserem Begriff von Krankheit ansetzt.
Agitation und Aktion sind so identisch und unterschieden entsprechend der Dialektik von Sein und Bewußtsein. Eine Agitation, die auf diese Weise wirksam wird, ruft notwendig die Aktion des Klassenfeindes hervor und wird dadurch über sich selbst hinausgetrieben.
Der Klassenfeind ist gerade dadurch zu definieren, daß er öffentlich und gesetzmäßig Polizeiapparat, Bürokratie und Armeen in Gang setzt gegen diejenigen, die ihr Handeln konsequent aus ihrem (gesellschaftlich produzierten) individuellen Leiden entwickeln.
10. Krankheit und Revolution
Nach Marx ist es eine historische Notwendigkeit, daß aus den Widersprüchen des Kapitalismus der Sozialismus folgt. Diese Notwendigkeit, die in jedem Einzelnen verankert sein muß, ist die Krankheit, das subjektive Leiden, die inneren Widersprüche, die das Bewußtsein verändern und zum Handeln drängen. Die Notwendigkeit ist die bewußte sinnliche Not der Einzelnen.
Die Krankheit ist einerseits Produktivkraft, andererseits, als Identität von Produktion und Destruktion, Begriff der Produktionsverhältnisse. Der Grundwiderspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist also so aufzufassen, daß die Krankheit die umfassende Notwendigkeit ist, die ihr eigenes Gegenteil produziert, die Revolution. Die Kranken sind somit an sich und als bewußt Leidende für sich die revolutionäre Klasse. Der Klassenkampf stellt somit den Lebensprozeß selbst dar und produziert als einzigen Gebrauchswert der Zukunft die Revolution.
Sozialistisches Patientenkollektiv
an der Universität Heidelberg
Die Lage der Welt ist Krankheit. Was tun?
Der vollständige Krankheitsbegriff
Was wir bis jetzt revolutionieren wollten?
Antwort: Die Revolution ab unseren allerersten Anfängen und bis zur Stunde
PF/SPK(H), 18.07.2015