Es gibt keinen Grund, schlechtes
Englisch zu entschuldigen oder zu kritisieren. Nicht anders als Musik ist
Krankheit ein internationaler Sachverhalt.
Musik leitet sich von Sprache ab,
Sprache aber von Krankheit. Im Zusammenhang mit Krankheit können Worte nur ein
Hinweis sein, deutsche Worte für einen deutschen Leser, englische Worte für den
englischen Leser. Aber der Leser sollte sich daran erinnern, dass Krankheit in
allen Teilen der Welt abgelehnt wird und zwar von einer gegen Krankheit
gerichteten vorprogrammierten
Grundeinstellung. Krankheit und alles, was damit zusammenhängt,
klingt für deutsche Ohren keineswegs besser als für englische.
Krankheit auf
revolutionäre Weise zu praktizieren, ist denn auch, unter allen
Interpretationen, die einzige ihr angemessene Weise.
Trotzdem ist dieses Buch schon ins
Französische, ins
Italienische, ins
Griechische und in
andere Sprachen
übersetzt worden, wie wir wissen. Und wir sind oft gefragt worden, warum nicht
ins Englische. Wie wir wissen, gab und gibt es eine Übersetzung ins Englische.
Aber sie ist nie erschienen. Die Ursachen dafür liegen in der politischen
Situation während der Jahre, in denen wir im Gefängnis waren. Sie sind
festgehalten in einem Brief an den Herausgeber einer neuen Sartre-Ausgabe, die
1991 erscheinen wird.
Im Gegensatz zu allen anderen
Übersetzungen dieses Buches in fremde Sprachen ist diese Übersetzung ins
Englische die erste, die von authentischen Protagonisten und Aktivisten und vom
Gründer des SPK gemacht wurde. Vielleicht, und das hoffen wir, ist diese
Tatsache für den Leser von größerer Bedeutung als die englischen Wörter, die
wir verwenden, und sogar die deutschen, die wir in Klammern hinzufügen.
Und außerdem und nicht zuletzt sollte
erwähnt werden, dass das SPK nie aufgehört hat zu existieren. Die heutige
PATIENTENFRONT –
Frontstellung gegen alle ärztliche Macht (Iatro-Kapitalismus),
eine Konfrontation, die nichts mit Antipsychiatrie zu tun hat, eine
Konfrontation, mit der das SPK 1970 begonnen hat – wurde 1973 aus dem deutschen
Gefängnis Stammheim heraus proklamiert, und zwar vom SPK und von niemandem
sonst und sie stellt den wirklichen Beginn des SPK im Jahr 1968 dar,
trotz der
Studentenrebellion und gegen sie, die immer die Patienten und ihre Inhalte
bekämpft hat und nur eine bessere medizinische Behandlung wollte und sonst
nichts, was, wie wir wissen, zu besseren Gefängnissen führt,
in denen die
Krankheit eingesperrt wird, zu besserer Folter und Gräbern. Dies nicht nur für
die Patienten, sondern für alle, da jeder als Körper (everybody) ein
Einzelkörper (isolated body) ist, der entweder aus der
Krankheit eine Waffe der
kollektiven Befreiung macht oder untergeht, zusammen mit dem
iatrokapitalistischen System, dessen chronischen Zusammenbruch von Ost nach
West wir seit Juli 1989 beobachten können (Berliner Mauer usw.).
Nehmt Euch in Acht vor den Iden des März, die, zweifellos, noch nicht vorbei
sind. Westlich von Rom gibt es ein weiteres Philippi. Wartet und Ihr werdet es
erleben! Aber machen wir aus der Krankheit eine Waffe. Jetzt.
18. März 1990,
Neunstein
Abschließend:
Seit Anfang der siebziger Jahre und
bis heute gab und gibt es in Deutschland nur dieses eine und einzigartige
SOZIALISTISCHE PATIENTENKOLLEKTIV und es sind seine ganz spezifischen
Ereignisse, die es bewirkt, zur Erfahrung gebracht und erarbeitet hat, von
denen auf den folgenden Seiten berichtet wird.
US-amerikanische Zeitungsberichte über
„madness freedom bands“, „music bands“ und „murderer bands“ im
Nach-Hitler-Deutschland kommen auf den folgenden Seiten nicht vor. Derartige
Berichte, von denen uns amerikanische Freunde kürzlich erzählten, woran sie
sich erinnern konnten, waren natürlich nie auf der Höhe der Zeit. Sollte der
eine oder andere Leser, der Details erwartet hatte, durch die das SPK in den
Rang eines Westerns erhoben wird, enttäuscht sein, so kann es nicht unsere
Aufgabe sein, ihn um Verzeihung zu bitten.
03. August 1991
Schon bald nach seinem
ersten Erscheinen wurde AUS DER KRANKHEIT EINE WAFFE MACHEN mehr und mehr als
das wichtigste Werk des SPK angesehen. Keineswegs zu Unrecht. Dennoch glauben
wir es den Lesern schuldig zu sein, auf zwei Umstände hinzuweisen, um diese
Bevorzugung in den Zusammenhang zu stellen:
1. Als
wir in Untersuchungshaft und bereits vor-verurteilt waren, mussten wir unsere
Materialien und auch unsere Ausdrucksmittel für die Endfassung ein Stück weit
gezielt und sorgfältig auswählen, um einerseits Einbrüche in das sehr dickfellige,
aber auch akademisch gepanzerte Verständnisniveau unserer Gegner zu erreichen. Andererseits galt es, die noch laufenden Ermittlungen zur nahen Vergangenheit
und zu den persönlichen Daten aller
verfolgten SPK-Patienten tunlichst zu
behindern, und außerdem war an diejenigen zu denken, die nun plötzlich mehr
Angst vor einer SPK-Ansteckung hatten als vor einer bloß politischen Verfolgung
und darunter litten. Vieles, und längst noch nicht alles, steht deshalb nicht
in der vorliegenden Schrift, aber immerhin schon auf manch' anderem Blatt (zum
Beispiel Über das Anfangen, z.B.
Krankheit die Ganzheit mit Zukunft).
2. Eine
wichtige, wenn auch nicht lebensnotwendige Ergänzung zu dieser Schrift werden
manche in den
SPK/PF-Dokumentationen
finden, vor allem unter Titeln wie
Die Iatrokratie
im Weltmaßstab und
Macht,
Iatrarchie / Krankheit, Gewalt. Ohne diese Kern-Inhalte hätte Aus der Krankheit eine Waffe machen,
speziell
Geschichte und Perspektiven der
Patientenselbstorganisation nicht geschrieben werden können. Warum? Damals
gab es noch Alt-Kommunisten und als Aus
der Krankheit eine Waffe machen zum ersten Mal erschienen ist, war es
denn auch gerade die linke Chef-Redakteurin Ulrike Meinhof (RAF), die uns im
Gefängnis und aus dem Gefängnis wütend entgegenschleuderte: "Ihr wart
schon immer verrückt, aber jetzt seid Ihr völlig wahnsinnig geworden. Nein,
noch schlimmer, Ihr habt den Kommunismus verraten. Zieht das (gemeint: das
Buch) sofort zurück. Das kann kein Arbeiter lesen, kein Mensch verstehen. Es
ist Euch verboten, die Partei in Euren Dreck zu ziehen und nehmt nie mehr den
Namen Rosa Luxemburg in eine Eurer dreckigen Mäuler, denn sie hat
geschrieben, ‚Die Wahrheit ist einfach‘. Lernt erst mal lesen, bevor ihr
schreibt."
Huber hat daraufhin (ritterlich, ritterlich!) nur das
Sartre-Vorwort zurückgezogen. Obwohl: Weniger ist nicht immer mehr.
Es scheint, dass wir
schon damals dem weithin fehlenden Unterschied zwischen Partei- und
Privatkapitalismus recht nahe gekommen sind. Die Wahrheit ist nicht nur einfach,
sondern noch einfacher:
Veränderung.
Dazulernen.
Zu kompliziert?
Aus der Krankheit eine Waffe machen'
ist letztendlich also vielleicht doch eine der wichtigsten Schriften? Sicher,
aber in der Tat und mit Raum, weltweit, für Ergänzungen.
24. August 1993
Auf der Höhe der Zeit zu sein,
bedeutet heute das Folgende: Die größte Industrie ist nicht länger das, was
Waffen, Computer, Autos oder für die Raumfahrt produziert. Die größte
Industrie heutzutage ist jene, die vorgibt, Gesundheit zu produzieren, d.h.
etwas das nie existiert hat und das es auch nie geben wird, es sei denn als
Illusionsprodukt, aus dem der Nazismus in all seinen vergangenen und künftigen
Spielarten wächst (HEILwesen). Der Kapitalismus zieht seinen größten Profit
aus dieser Spitzenindustrie
und der Tag ist nicht fern, an dem die eine Hälfte
der Bevölkerung der westlichen Welt entweder in Kliniken beschäftigt sein oder
dort anders, d.h.: als Arzt-Patient, die andere Hälfte, ausgebeutet wird.
Rotationssystem. Zum Spass? Nur für seine jeweiligen planetarischen Herrscher
(um Himmels Willen!) oder Sternenherrscher.
Der Leser der folgenden Seiten
ist deshalb keineswegs aufgefordert, den Ausdruck Klassenantagonismus für
nichts als ein marxistisches Fossil zu halten. Wahrlich, Hegel, der berühmte
Vorgänger von Marx, erwartete ein Verschwinden des Klassenantagonismus auf
Grund der Kolonisation, betrieben von der aufsteigenden Bourgeoisie des 19.
Jahrhunderts. Aber schon lange ist der Klassenantagonismus zurückgekehrt, nicht
in die Fabriken, regiert von den Gewerkschaften und den Bossen, sondern in die
Kliniken, regiert von den Ärzten, die die Patienten unterwerfen und ausbeuten
und die illusionäre Ware Gesundheit produzieren in all diesen Fabriken,
ungeachtet aller gewerkschaftlichen, ungeachtet aller Guerilla-Aktivitäten.
Allgemeiner:
Krankheit als Gattung, um die Menschengattung zu schaffen oder medizinische
Spezialisten, um sie für immer zu zerstören (die MenschenGATTUNG gegen deren
Zerstörungs- und EndlösungsKLASSE), das ist der Klassenantagonismus heute und
das einzige wirkliche Problem, das es zu lösen gilt.
Noch einmal: Patienten mit Gattungsbezug gegen Fachidioten jeder Sorte.
Diejenigen, die vorgeben, der
Klassenantagonismus sei seit langem verschwunden und nun müsse schnellstens die
menschliche Gattung gerettet werden (was muss gerettet werden? Gegen wen und
gegen was muss was gerettet werden?!), solche wie Gorbatschow und Dutschke
ebenso wie Francis Fukuyama, die das Wort `Gattung` gelegentlich erwähnen,
hatten weder mit dem Problem noch mit der Lösung etwas zu tun, aber der alte
Hegel vielleicht.
Es ist daran zu erinnern, dass für Hegel es ausschließlich
Krankheit ist, die Gattung auf dem Niveau der Menschheit repräsentiert und
ebenso, weil dialektisch, das Scheitern der Gattung. Es ist mit Hegel also
völlig klar, dass das Glücken der menschlichen Gattung
mit dem Wie von
Gemeinschaften verbunden ist, während das Scheitern der menschlichen Gattung,
erlitten von der jeweiligen Einzelperson, mit dem Medizinsystem zusammenhängt,
das, horribile dictu, selbst für alle Zeiten zum
Scheitern verdammt ist, seit seinem Anbeginn, denn, in Hegels Worten,
buchstabiert in meiner Weise: "Krankheit ... das INDIVIDUUM, sich
gleichsam mit sich selbst beGATTEND", hinzuzufügen: ... unTEILbar
unHEILbar.
Auch Imperialismus gibt es weiterhin. Und wie! Und wo! Inzwischen kann man die geographischen Landkarten vergessen, mit denen dieser Ausdruck in den Büchern von Marx und Lenin verbunden ist, und auch alles über (fukuyamatische Ende-der-Geschichte) Freiheit und Totalitarismus, Diktatur und Demokratie.
Nimm die medizinische Landkarte
und sieh dein Gehirn kolonisiert und beherrscht von Namen (und den zugehörigen
medizinischen Methoden!) wie Parkinson, Alzheimer, Bleuler und so weiter,
deinen Magen von Billroth, deinen Hals mit der Schilddrüse von Basedow, deine
Muskeln und dein (vielleicht so genannt hysterisches) Verhalten von Charcot und
Freud und bring das in Verbindung mit dem, was die Marxianer über Imperialismus
geschrieben haben - damals noch weit entfernt von einem so genannten Freien
Markt, ein Imperialismus rund um die Organbank heute. Ein Imperialismus, der
z.B. heute mit den Organen von Kindern handelt, ebenso wie weit entfernt mit
Ländern und Völkern, wie in den marxistischen Büchern festgehalten.
In noch früheren Zeiten gab es astrologische Landkarten, in welchen der
Herrscher deines Gehirns Namen trug wie Mond (Luna) oder Krebs, der Herrscher
deiner Muskeln Mars und so weiter. Jene alten Namen, die nichtsdestoweniger
immer noch vorhandene Einfallstore und Wechselbanken für andere Dämonen und
Teufel repräsentieren, besitzend und besessenmachend, mit Interesse am
Imperialismus, aber Feinde jeder Revolution, die beides, nämlich Kosmisches und
Soziales betrifft, gewiss (kosmisch-soziale Revolution).
In Zukunft wird es immer mehr Gruppen
geben, von spezifischen Kräften der Krankheit gebildet, die wirkliche
In-dividuation entwickeln (Multi-Fokaler Expansionismus, MFE).
Eine spezifische
Krankheitskraft ist die Manie, die, wird sie kollektiv entwickelt, wie eine
musikalische Spezies wirkt (Musikgattungswesen, nicht harmlos), die alle
Disziplin durch Transzendenz tötet. Genauso wie ein Kollektiv, das seine
selbstgewählten Körpersüchte entwickelt,
eingeübt Körper für Körper, denn dann
ist Sucht eine tödliche Waffe gegen alle Drogen und Arznei, indem sie alle
Körper in eine wohltemperierte Gattung verwandelt (Wärmekörper, wild), also
durch Immanenz.
Kann man eine Melodie, kann man Wärme, eine Krankheit oder eine
andere Gattung teilen? Natürlich nicht, denn solche Individualitäten sind
entweder Individuen oder teilbar, folglich keine Individuen.
Vielleicht haben Plato und Bergson vergessen, dies in der Vollständigkeit zu
erwähnen, wie sie jetzt nötig ist, um fähig zu werden zum Tun, und
Pluto,
Unwägbares zu Gewichtigem, Gewicht zu Unwägbarkeit gruppierend, ist deshalb
jetzt wütend auf sie und greift zu Erdbeben.
Macht Gebrauch von eurer
eigenen Erfahrung über Krankheiten und setzt Phantasie in Aktion.
Das ist gemeint, wenn es darum
geht, auf der Höhe der Zeit zu sein. Aus der Krankheit eine Waffe machen,
ist der erste Blick auf eine herzustellende
Zukunft, befreit von (Endlösungs-)
Namen, Herrschern, Gesundheitsfabriken und so weiter. Wir nennen sie Utopathie.
Das also ist meine Einleitung, gedacht als Hilfe,
gemacht inmitten des absoluten Nichts, in Sorge um nichts als die real
existierende Krankheit.
Andere Frontpatienten, die mich darum baten, die Einleitung zu machen, baten
mich auch, sie so zu lassen wie sie ist. So sei es, herzlich gern.
Denn, alle Bescheidenheit beiseite gelassen, gibt es keinen Zweifel daran dass,
gerade in Bezug auf die noch zu schaffende Menschen-Gattung, vielleicht ebenso
für Euch wie für mich, alle hilfreichen und daher guten Dinge so schwer sind
wie selten (omnia praeclara tam dificilia quam rara sunt.
Baruch Benedictus
d'Espinosa, 1632 - 1677).
15. April 1992
H *
Der
Westen ist tot
Denn Krankheit bleibt rot
Let's
go west
Gold' illness dawns best.
* in voller Verantwortung für die
Übersetzung, und alle anderen, wie in erster Linie Laura Freywertt und Emil
Feelhaache, sind nur für die guten Teile der Übersetzung verantwortlich.